Sozialismus – was ist das?

 

Die wunderbaren Gewißheiten ...
Es war einmal ein kleines Land, in dem nach einer großen Finsternis die Sonne schön wie nie scheine sollte. Das wünschten sich viele Menschen und sie sangen sogar davon. Als es ihnen aber tatsächlich halbwegs gut ging, merkten die Leute aber, das große Wünschen und das Treu-Dienen brachte sie nicht mehr recht weiter. Das ewige Licht ging ihnen nicht auf, nicht einmal die Brüdern und Schwestern im Westreich konnten sie einholen, von überholen ganz zu schwiegen. Da verstummten die Lieder von der Sonne und vom Auferstehen. Und selbst die Häuptlinge von Kleinland gaben ihre großen Wünsche faktisch auf. Wie der Herrgott schauten sie auf das bereits Geschaffene, das Real-Existierende sozusagen, und sie erkannten es als zwar immer noch verbesserungsfähig, aber doch eigentlich schon als gut. Auf solche Weise verwandelte sich das Erreichte ins Gewünschte. Und die einstigen Worte vom Reich der Freiheit und der Sonne, sie ruhten selig in blauen Bänden und alten Liederbüchern.

In diesen alten Zeiten lebte ich schon. Damals mehr jung als wild wollte ich genau wissen, was gut ist für mich und die anderen Leute. Und ich begriff es schnell – das Arbeiten und Leben wie in Kleinland, das ist es. Ein paar elende Muttermale der ganz alten Welt störten mich zwar, offenkundig mehr als die fast zufriedenen Häuptlinge. Doch was soll´s, dachte ich. Du tust, was du kannst. Und weil ich all die mir damals verfügbaren Weisheiten einigermaßen gut darstellen konnte, ja es sogar fertigbrachte, die alten Sprüche aus den blauen Bände mit der Wirklichkeit zu versöhnen – was freilich immer kunstvollerer Wendungen bedurfte – habe ich dann in ehrwürdigen Gemäuern anderen Suchenden erklärt, was das ist, die gute Welt. Seminare über Wissenschaftlichen Sozialismus hieß das in jener fernen Zeit. Selbst für die Völker hinter den westlichen Reichsmauern hatte ich weise Ratschläge parat. Ich sprach davon, wie auch sie ihre Ketten abwerfen und die dunklen Wolken verjagen können, damit auch ihnen einst die Sonne ... usw. usf. Kurz, ich redete von dem, wovon wir selbst schon nicht mehr laut sangen, was ich aber nie vergaß. Ich war eben erfüllt von wunderbaren Gewißheiten über eine gute Gegenwart und von meiner Mission, an der strahlenden Zukunft von Klein- und Groß-Bruderland mitzuwirken.

Später wurde ich etwas nüchterner. Zu helfen, daß sich die Reiche verschiedener Arten nicht gegenseitig zerfetzten, erschien mir dann schon Aufgabe genug. Ob ich selbst noch den vollendeten Sonnenstaat erleben würde oder nicht, daß ich jedenfalls in der besten aller real-existierenden Welten lebte und daß es der richtige Gipfel war, den wir bestiegen, dessen war ich gewiß trotz der im dichten Gestrüpp abhanden gekommenen Aussicht.

sind verloren ...
Heute bin ich nicht mehr so pfiffig. Selbst ein einigermaßen faßliches Sozialismusbild kann ich nicht mehr bieten. Alzheimer, die große Wendekrankheit? Kaum, denn im Gegensatz zu den vielen Vergeßlichen aus meiner Gilde weiß ich noch, der Osten war kein Hort des Bösen, kein Unfall der Geschichte, ist auch nicht als Produkt krankhafter machtsüchtiger Hirne zu begreifen. Daß ich ein DDR-Patriot war kann ich auch und gerade nach 10 Jahren Zwangseinbürgerung noch nachvollziehen. Das begriffslose Denunzieren des Ostens – "Ach wie konnte man nur ...?!" – bringt mich auf die Palme. Zugleich will ich den Real-"Sozialismus" auf keinem Fall wieder haben, noch viel weniger als die Anpasser an den gerade aktuellen Zeitgeist von sich selbst glauben. Ein Widerspruch? Im Gegenteil. Ich habe zunehmend Verwandtschaften in den Grundstrukturen von Ost und West erkannt und zwar gerade in den Punkten, die in beiden Gesellschaften Barrieren bildeten bzw. noch bilden gegenüber einer menschenverträglichen Zukunft, die ich gern Sozialismus nenne. Gerade weil ich nach einer solchen Zukunft suche – ich oute mich als Unverbesserlichen –, kann ich erkennen: der Osten war nicht sozialistisch. Ich habe ernüchternde sowie erfreuliche Ost- und Westerfahrungen verarbeitet und so sehe ich es auch heute nicht nur als notwendig an, sondern auch als realistischer denn je, auf die kapitalistischen durch neue Verhältnisse zu überwinden.

und als Traum wiedergekehrt
Welche Verhältnisse?
– Solche, in denen der Wert eines Menschen nicht daran gemessen wird, wie gut er einem von ihm nicht beherrschten Ganzen dienen kann (einem Unternehmen, einer Sache, einem Staat) oder wie er sich selbst mittels Geld oder/und politischer Macht über andere Menschen erheben kann. Verhältnisse, in denen es eine Lust ist zu streiten, in denen der persönliche Erfolg ebenso ein Gewinn sein kann wie die Niederlage, da weder das eine noch das andere zu fremder Macht, zu Herrschaft und Unterdrückung führt. Es geht um eine Gesellschaft, in der mein Jubel über ein geglücktes Projekt ebenso wie der Ärger und Schmerz über Mißlungenes mich nicht von den anderen Menschen trennt, sondern als gemeinsame bereichernde Erfahrung mich mit ihnen verbindet. Ich will ein Leben, in der es andere als ihren Verlust begreifen, wenn ich mich ihnen verweigere oder wenn ich im Dreck liege und umgekehrt.
– Ich will eine Gesellschaft, in der – die Sicherung meiner materiellen Existenz wie die aller auf eine zivilisationsverträgliche Art vorausgesetzt – mein wirklicher Reichtum vor allem in frei verfügbarer Zeit besteht, im unbeschränkten Zugang zu Kultur und Wissenschaft sowie in der Qualität meiner frei gestaltbaren sozialen Beziehungen. Ich strebe mehr denn je nach solchen Verhältnissen und halte sie für möglicher als je zuvor. Dies, weil ich Gründe dafür angeben kann, daß die Menschen sie nunmehr massenhaft für vernünftig und erstrebenswert halten können und für auch selbstverwaltend gestaltbar. Eine solche Gesellschaft nenne ich sozialistisch.
Das wäre eine offene freiheitliche Ordnung, die sowohl vom einstigen Real-"Sozialismus" als auch vom westlichen entwickelten Kapitalismus aus gesehen einen zivilisatorischen Fortschritt brächte. Eine solches Leben und Arbeiten war bzw. ist mit den Grundstrukturen beider Gesellschaften unvereinbar. (Dem widerspricht nicht meine Auffassung, daß Ost- wie Westdeutsche und in der Zeit deutscher Zweistaatlichkeit und gerade wegen dieser an Zivilisation gewonnen hatten.)

Die Demontage des Sozialismusbildes – bringt einen Haufen Ärger
Nein, der Osten war weder real-, noch früh-, staats- oder sonstwie sozialistisch. Es war auch keine antisozialistische oder antikommunistische Verblendung, daß die Mehrheit der Wessis die östliche Gesellschaft nicht als die für sie erstrebenswerte Perspektive ansah. Dafür gab es gute oder besser böse Gründe. Indem ich dies begriff, demontierte ich mein altes Sozialismusbild samt der ML-Revolutionstheorie. Den Verlust der einstigen Gewißheiten, möglich geworden erst nach dem Exodus der von mir verteidigten DDR ist ein Fortschritt auf der Suche nach einem Weg zum Sozialismus. Das Ergebnis meiner Suche jedoch erscheint vielen meiner Freunde enttäuschend. Das ist es auch, allerdings nur nach dem Maßstab der früheren Gewißheiten. Auf solche Sicherheiten – dies verhält sich ähnlich bei religiösen Überzeugungen – wollen aber die meisten Menschen nicht verzichten. Und so wird, wenn ich die siegreichen westlichen Strukturen als höchst vergänglich ansehe (womit ich Beifall ernte) und zugleich die sozialistische Qualität des Ostens verneine, von mir häufig aggressiv gefordert, doch bitte schön ein anderes konkretes Sozialismusbild zu präsentieren. Ich soll dann auch noch den Weg dahin beschreiben sowie die Partei oder Organisationen benennen, die die Menschen auf selbigen führen können. Wenn ich mich dazu außerstande sehe und mich auch noch unwillig zeige, diesem Wunsch nachzukommen, wenn ich also weder Campanella noch Th. Morus sein will, wenn ich an die Stelle des alten ML-Modells (man nehme: den sich verschärfenden Kampf zwischen Kapital und Arbeit, eine Partei neuen Typus, ergreife die Macht und die Produktionsmittel, richte alles nach den gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen, die die Parteiführung genau kennt, aus ... usw.) kein anderes Kochrezept setze, dann fühlen sich meine oft demokratisch-"sozialistischen" Streitpartner arg verarscht. Wenn ich sozialistische Verhältnisse für notwendig und möglich halte und zugleich behaupte, daß es überhaupt keine staatstragende Partei irgendeines Typus geben könnte, die irgendetwas in sozialistischer Richtung voranzubringen vermag, wenn ich demzufolge den Sinn von innerparteilichen Hierarchien und von Wahlkämpfen überhaupt in Frage stelle, dann gefährde ich alte Freundschaften. Mit der wütenden Frage "Was hast du denn anzubieten, außer Kritik?" werde ich aus Basisorganisationen oder aus Zeitungen gefegt oder mit Hohn: "Wo sind sie denn, deine Selbstverwaltungen, deine emanzipatorischen Bewegung, die angeblich aus dem Kapitalismus herausführen könnten?" Ich kann dann bloß wiederholen: In diesem (früher auch von mir selbst) geforderten Sinne weiß ich nicht, was Sozialismus ist, kann ich keinen positiven Entwurf bieten. Und ich kann auch nicht, wie weiland der große Lenin, eine Organisation von Revolutionären beschreiben, mit der die Welt aus den Angeln zu heben wäre. Ein solches Was tun? – ein seinerzeit großartiges Werk – ist von mir nicht zu haben. Und verfügte ich über die Regierungsmacht, dann wüßte ich heute ganz im Gegensatz zu früher damit nur eines anzufangen: Mit vollem Genuß den Laden so in den Treck fahren, daß kein vernünftiger Mensch noch an der Illusion festhielte, es gäbe irgendeine gute Herrschaft, die die Dinge in seinem Interesse richten könne. An dieser makabren Aufgabe brauche aber nicht ich mir die Hände schmutzig und seit kurzem auch noch blutig machen. Das erledigt die jetzige rot-grüne Oligarchie ohnehin glänzend und auch alle denkbaren zukünftigen Regierungen in schwarzen, braunen oder rötlichen Farben werden es zelebrieren. Auch mitregierende demokratisch-"sozialistische" Parteien und deren Minister werden nämliche Wirkung haben und zu entsprechenden Charaktermasken werden. Diese Blamage (blamabel ist dies natürlich nur gemessen an dem äußerlich gewordenen demokratisch-sozialistischen Anspruch, nicht etwa an der Zahl der Wahlstimmen und der eingefahrenen Diäten) ist offenkundig eine der unvermeidlichen (Fehl-)Tritte auf dem Weg zur massenhaften Erkenntnis, daß die Zeit reif geworden ist für ganz andere soziale Bewegungen, als für die macht- und regierungsorientierten. Und wenn es gelingt, diese Erfahrungen zu befördern, dann kann ich rötlichen Regierungen sogar etwas Positives abgewinnen.

Das Besser-Machen – nur eine Variante der Katastrophe, weil ...
Regelmäßig kommt dann die Aufforderung, die mich als unfähigen Querulanten vorführen soll. "Wenn du das alles so gut weißt, dann bringe dich doch selbst wieder in die Politik ein, mach doch die Sache besser." "Liebe Leute", kann ich dann nur wiederholen, "ich sehe in der macht- und parlamentsorientierten Parteipolitik nicht deshalb keine demokratisch-sozialistische Chance zur Zivilisierung des Kapitalismus (von Sozialismus ganz zu schweigen), weil etwa die Akteure – so wie etwa meine zu Ministern werdenden Genossen – unfähige oder schlechte Menschen wären und Politik halt ein immer und ewig schmutziges Geschäft ist. Wenn wir so aus den schlimmsten kapitalistischen Katastrophen herauskämen, indem die Übel- nur durch die Gutmenschen auszutauschen hätten, es wäre schön und ich würde mit Freude daran mitwirken. Doch wer auch immer an staatlichen Schalthebeln sitzt, er hat eines zu tun, das jetzige Ganze zusammenzuhalten, also Kapitalismus zu vollziehen, den Konsens zwischen den Oligarchien und den Beherrschten zu sichern ..." usw. usf. "Früher warst du doch aber gerade dafür. Da war es sogar deine Profession, Kapitalismus zu zivilisieren. Warst du nicht einst auch froh, als in den 70ern der alte Strauß, damals noch ein ausgesprochener Kalter-Kriegs-Scharfmacher, in seinem parteiinternen Putschversuch gegen moderateren Kohl scheiterte?" Ja, in einer allerdings noch weiter zurückliegenden Vergangenheit als bei diesem Beispiel, machte so etwa noch einen zivilisationssichernden Sinn. Es war gerade unter Umständen völkerrettend, Einfluß auf die konkreten Herrschaftsvarianten zu nehmen, etwa den New Deal gegen den Faschismus, das kleinere gegen das übelste aller Übel, zu verteidigen. Es konnte Sinn machen, sich sogar mit dem Teufel einzulassen. Dies damals nicht zu tun, etwa die Antihitlerkoalition mit allen Mitteln zu stärken, war Feigheit oder gar ein Verbrechen (so wie es heute eines ist, den "guten zivilisierten" Westen gegen einen serbischen Duodezfürsten im Marsch zu setzen). Der Reformismus und revolutionäres Engagement waren einst auch dann sinnvoll, wenn sie nicht aus dem Kapitalismus herausführten. Beide konnten helfen (wenn sie nicht wie etwa die SPD-Führer 1914 selbst in die Barbarei verfielen) die zivilisatorischen Potenzen des Kapitalismus freizusetzen. Diese Möglichkeit gibt es heute nicht mehr. Da ist schon die scheinbar softeste Variante, etwa die rot-grüne, die Katastrophe selbst. Und daran wird kein rötlicher Tupfer etwas ändern. "Du nichtswürdiger, notorischer Sozihasser, du ML-Geschädigter, du utopischer Spinner!" tönte es mir aus der großen sozialistischen Tageszeitung von ehemaligen Gewi-Größen entgegen. Ich hatte vorgeschlagen, die unvermeidliche Ent-Täuschung über die damals neue rot-grüne Regierung (darin eingeschlossen die illusionäre Hoffnung, durch parlamentarisch-demokratisch-sozialistischen Druck auf diese sei eine positive Wende zu erreichen) als Chance zu sehen und statt die SPD- Herrschaft zu legitimieren nach wirklich demokratisch-sozialistischen Wegen zu suchen.

so nichts menschliches mehr zu holen ist
Inzwischen hatten wir den ersten der absehbaren weiteren Welt-Neuaufteilungs-Kriege. Und eine akute große Wirtschaftskrise wird auch nicht vermeidbar sein. Und doch erklären all die edelmütigen Kämpfer für eine Regierungsbeteiligung von Linken unbeirrt weiter, daß, wenn sie schon nichts für den Sozialismus tun können, sie aber wenigstens den Kapitalismus auf eine solche Weise am Laufen halten können, daß das Schlimmste verhindert wird. Ja, das wäre ja sehr vernünftig und mensch müßte schon aus Eigeninteresse daran mitwirken, gäbe es eben nicht ernste Gründe für die Annahme, daß die zivilisatorischen Potenzen der bürgerlich-kapitalistischen Epoche ausgeschöpft sind. Sich aber unter dieser Voraussetzung an der Verwaltung kapitalistischer Katastrophen, das heißt immer auch unweigerlich am Betrug und an der Niederhaltung Aufmüpfiger, zu beteiligen, kann kein Konzept sein. Dies ausgerechnet unter demokratischem und sozialistischem Vorzeichen zu tun, wird um so widersinniger, da mit dem inzwischen überschrittenen Höhepunkt der fordistischen Produktionsweise eine tatsächlich neue Gesellschaft möglich wird. Es entstehen nämlich endlich solche materielle Voraussetzungen, die neuen emanzipatorischen Bewegungen tatsächlich die Basis für Begründung einer neuen zivilisationsfördernden Lebens- und Arbeitsweise, dem Sozialismus also, bieten könnten. "Liebe parlaments- und machtorientierte GenossInnen", kann ich nur sagen, "widerlegt diese Auffassung, widerlegt, daß die einst voreilig formulierte Alternative Sozialismus oder Barbarei heute wahr geworden ist." Wenn es – außer für die unmittelbar Beteiligten und außer für den Seelenfrieden derjenigen, denen nichts weiter einfällt als "Irgendetwas muß ich ja tun" – wenn es also wirklich noch einen menschlichen Sinn ergäbe, innerhalb des Kapitalismus um Macht zu kämpfen und zu diesem Zwecke auch wieder innerparteiliche Herrschaftsstrukturen zu errichten, vielleicht könnte ich wieder ein treues Rädchen im miesen Getriebe werden. Doch wenn ich recht haben sollte, daß durch heutige Machtbeteiligung genauso wie mit den alten östlichen Strukturen nichts menschenförderliches mehr zu holen ist, dann ist euer Realo-Konzept weder realistisch, noch demokratisch-sozialistisch. Es ist antisozialistisch. Stimmt das, dann fangt ihr Stimmen unter falscher Flagge. Überführt mich und viele andere Leute, die das begriffen haben, des Irrtums oder wechselt eure Fahnen und entfernt die Rosa aus eurem Haus und die Marx-Bilder in euren Räumen gleich mit.

Ein anarchistischer Fremdkörper
Spätestens wenn ich so über Regierungstolerierungen und -beteiligungen rede sowie über den antiemanzipatorischen, also antisozialistischen Effekt des ganz normalen bürgerlichen Politgeschäfts meiner wirklich cleveren demokratischen "Sozialisten", dann ist der kritische Punkt erreicht. Die meisten meiner GenossInnen schreiben mich als hinderlichen Fremdkörper ab. "Ein politikunfähiger Anarchist!" Mit meinen Argumenten wird sich nicht beschäftigt – gemäß der auch schon klar ausgesprochenen Logik: "Wenn du den Sinn dessen, worum wir mühselig kämpfen, also die Wahlerfolge, in Frage stellst, dann brauchen wir über die Gründe, die du dafür anführst, überhaupt nicht zu reden." Abgesehen davon, daß ich selbst einst diesen Stil zelebriert habe und daß meine Kenntnisse über den Anarchismus nicht sehr viel weiter als die derjenigen reichen, die völlig sicher wissen, daß das etwas ganz Übles ist (siehe die Geschichte der KPdSU (B), Moskau 1938), weiß ich immerhin Gründe dafür anzugeben, warum der Anarchismus in der Vergangenheit keine geschichtsmächtige Kraft werden konnte. Unter anderem weil die Knechtung unter die fordistische Produktionsweise und die damit verbundenen Staatsformen in Ost und West immerhin noch mit partieller Emanzipation vereinbar waren. Solange diese Möglichkeiten der alten Gesellschaft nicht ausgeschöpft waren, hatte eine uneingeschränkt freiheitliche Gesellschaft, also Sozialismus, in welcher Form auch immer keine Chance. Traurig, aber der alte Marx behielt hier recht. Doch auch wenn es denunzierend gemeint ist, so ganz falsch ist der Anarchismus-Verdacht nicht. Aus den gleichen Gründen, aus denen heraus die ursprünglich mit Marx verbundene kommunistische und sozialdemokratische Arbeiterbewegung eine geschichtsmächtige Kraft entfaltete und die Anarchisten dagegen unvermeidbar immer wieder zu den Verlieren gehörten, scheint mir heute der alte Widerspruch etwa zwischen Marx und Bakunin einer der Vergangenheit zu sein. Dieser Streit gehörte einer Zeit an, als Entwicklungsblokaden noch innerkapitalistisch revolutionär oder reformistisch aufgebrochen werden und neue zivilisationsverträgliche Varianten bürgerlicher Projekte kreiert werden konnten (wie nach 1945ff die DDR und die BRD), der Sozialismus eben noch gar nicht auf der Tagesordnung stand. Der Konflikt hatte sich vor allem am Verständnis der erforderlichen materiellen Voraussetzungen für das "Reich der Freiheit" und am Streit über die politischen Formen des Übergangs vom Kapitalismus dorthin entzündet. Vor allem hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus letzteren gebe ich Marx unbedingt recht. Seine Kritiken der Politischen Ökonomie helfen zu begreifen, daß Sozialismus ökonomisch weder 1917 noch 1945 möglich war, daß er wohl aber eine geschichtliche Tendenz der nächsten Zeit sein kann. Zugleich wird ebenfalls mit Marx (besonderes dem frühen) verständlich, daß es eben nicht die Strukturen der alten Arbeiterbewegung (auch nicht sogenannte Diktaturen des Proletariats) sein können, die den Übergang zu einer neuen Arbeits- und Produktionsweise eröffnen. Was über viele Generationen noch utopischer anarchistischer Wunsch sein mußte, kann heute zur realistischen Tagesforderung werden: ein Übergang zum Sozialismus nicht durch den Rückgriff auf den Staat, die "übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft" , sondern durch Aufhebung jeglicher Herr- und Knechtschaftsstrukturen. Dazu an anderer Stelle mehr.

Ein seltsame Nacht ...
Halten wir zunächst fest: Wer aus nachvollziehbaren menschlichen Gründen einen Ausweg aus dem Kapitalismus sucht und dabei auf ein Sozialismusbild hofft, das einer regierenden Partei oder einem Staat und den jeweiligen Gefolgschaften einen Weg ins allgemeine Glück weisen könnte, der wird es nicht finden. Bei mir gleich gar nicht. Vielleicht ist aus folgender Episode heraus leichter als durch theoretische Erörterungen begreifbar, warum ich mich vom sehr verbreiteten knechtischen Genuß, treu machtstützend zu dienen und dies auch noch als besonders sozialistisch anzusehen, ebensoweit entfernte wie vom Herrschaftsgenuß. Diese kopernikanische Wende erfolgte nicht gerade freiwillig, war aber immer verbunden mit heftiger Neugier. Ungewiß, ob es mir jetzt der Garaus machen würde, habe deshalb zum Beispiel im Januar 1990 geradezu das "Vergnügen" gesucht, eine Nacht lang hinter dunklen Gardinen in einem bestimmten Lichtenberger Objekt zu verbringen. Das wurde gerade gestürmt. Ich hatte ausgiebig Gelegenheit, "mein" Volk, dessen lichte Zukunft ich mit beschützen wollte, zu studieren. Dabei beeindruckten mich nicht etwa die Freiheitskämpfer, die die Kücheneinrichtung zertrümmerten, oder die Wende-Medienhelden. Beide waren ebenso berechenbare Instrumente – wie ich auch eines war. Mit ihnen war geistig und moralisch leicht fertig zu werden. Anders die Wirkung der Eltern, die mit ihren halbwüchsigen Kindern zu Hunderten durch den dunklen Hof schlenderten. Ähnlich wie sonntags im Zoo zeigten sie auf vergitterte Fenster – also auf mich –, irgendwelchen Grusel suchend. Nicht das Spießrutenlaufen durch die Reihen selbsternannter Bürgerrechtler am nächsten Morgen, sondern dieses Bild beeindruckte. Das stumme Starren auf eine Macht, die die ihre sein wollte, die sie alle liebte. Die meisten der nächtlichen Spaziergänger wären mir wohl noch kurz vorher mit ziemlicher Selbstverständlichkeit – hätte ich sie zum Beispiel angesprochen – dienlich geworden, stolz auf das ihnen gebotene Vertrauen und auch in der Annahme, etwas Gutes auch für die Zukunft ihrer Kinder zu tun. Und nun? Sie zogen durch den Hof wie durch die Ruinen einer längst vergangenen Zeit. Sie machten sich frei von einer ihnen eigentlich fremden Macht. Sie befreiten sich von mir. Diese Leute waren keine Dummköpfe, nicht meine Feinde.

und eine Idee
Ausgerechnet in dieser Zeit kam bei mir die Idee auf, daß genau diese Leute mit ihrer plötzlichen Freiheit doch tatsächlich etwas wirklich Neues anfangen könnten. Würden sie, nachdem sie sich gerade von einer ungeliebten Herrschaft und von ihrem knechtischen Bewußtsein frei gemacht hatten, nun auch einen zweiten Schritt gehen? Vielleicht halten sie sich die nun absehbaren neuen westlichen Begehrlichkeiten auf ihre Arbeits- und Kaufkraft und die neuerlichen Meinungsmanipulationen vom Halse und nehmen den Laden selbst in die Hand. Die notwendigen Strukturen dafür, die Runden Tische und die uneingeschränkte Öffentlichkeit, waren ja gerade geboren. Eine Nacht lang hinter dem Fenster stehend, begann ich, mich von mir selbst zu befreien. Gerade noch die DDR verteidigend und voller Bedenken, was hier in dieser Nacht wohl noch abgehen wird, begann ich zu frohlocken: Hier könnte etwas beginnen, was mit einer ganz anderen Welt zu tun hat, als mit der östlichen und mit derjenigen, die vom Westen her nun anrückte. Die Sache fing an, wirklich interessant zu werden. "Wartet nur ab, ihr westlichen Herrschaften", spann ich die Idee weiter, "mit unsereins, mit konkurrierenden Herrschaftsstrukturen, konntet ihr ganz gut leben. Eigentlich saßen wir doch in einem Boot. Unsere Feindschaft sicherte unser beider Herrschaft. Was macht ihr jetzt ohne uns? Jetzt, da wir verschwinden und da nun auch noch ein neues Modell in der Welt ist, wie Mächte im Vollbesitz ihrer ganzen Gewalt auflösbar sind. Nicht ich und meinesgleichen, nicht Parteien irgendeines Typus, nicht sogenannte Arbeiter-und-Bauern-Mächte habt ihr zu fürchten, sondern die, die da unten spazieren. Sie haben begonnen, sich von unseresgleichen frei zu machen. Als nächstes seid ihr dran. Früher oder später wird es Runde Tische am Rhein geben. Und dann meine Herren in Frankfurt, Wiesbaden oder Pullach, dann werden sie mich als Seelsorger brauchen. ..." Nun, es setzte sich erst einmal eine ganz andere Tendenz durch. Es gab zwar ein paar Ideenblitze, wie die Geschicke wirklich in die eigenen Hände zu nehmen wären, doch keinen wirklich ernsthaften Schritt in diese Richtung. Wieso auch, bedarf es doch für eine wirkliche geschichtliche Aktion vieler Menschen noch viel weiter gehender Ent-Täuschungen: auch der Westen und jegliche Herrschaft muß erst entzaubert werden. In genau diesen Lehrstunden stecken wir heute mittendrin. Diese Lektionen können noch sehr übel werden. Dafür, daß sie nicht umsonst erteilt werden, daran sollten Sozialisten arbeiten. 1990 jedenfalls, kaum hatten sie die hiesige Macht der alten Herren ausgeschaltet, warfen sich erst einmal massenhaft Leute vor den nächsten Herrschaften auf den Bauch: "Nehmt uns, kauft uns, erniedrigt uns! Wir wollen auch alles tun, damit wir uns für euch rechnen." Für mich allerdings war die Wende bereits der entscheidende Anstoß, Wege in die Zukunft nicht mehr über die Rekonstruktion von Herrschaftsstrukturen zu suchen.

Warum Lear zwar kein Königtum mehr will ...
Nun war ich aber eben nicht vergeßlich. Ich hatte es doch nicht aus Dummheit, Machtgier oder weil mich irgend jemand betrogen hatte mit den "sozialistischen" Mächtigen gehalten. Ich hatte doch Gründe dafür, eine Herrschaft – in welcher unmittelbar diktatorischen oder vermittelt bürgerlich-parlamentarischen Form auch immer – mindestens mittelfristig für notwendig zu halten. Schon wegen deren Überblick und deren tieferen Einsicht in den weiteren Gang der Geschichte und weil ich zum Beispiel von (fordistischer) Produktion immerhin soviel selbst erlebt hatte, um zu wissen, daß sie ohne Hierarchien nicht auskommt. Aus diesen Gründen billigte ich wie die Masse der Leute Herrschaft, den Gebrauch von Macht. Nach dem bewußten Januar-Stürmchen hatte ich zwar nun wie der alte Lear des Herrn Shakespeare eine Sicht von ganz unten. Doch, trotz des Ideenblitzes in jener Nacht, ich blieb noch lange sozusagen machtorientiert. Die Gründe, die im Osten einst nicht zum Absterben des Staates führten, sondern zum Gegenteil, die die Menschen nicht zu ihrer Selbstbefreiung, sondern zur Rekonstruktion der Knechtsseligkeit trieben, waren erst noch zu begreifen. Noch konnte ich dies nicht, doch die richtige Frage war gestellt. Ich konnte hoffen, die wirklichen Bedingungen für die Aufhebung von Macht und massenhafter Bereitschaft zur Unterwerfung, also die materiellen und subjektiven Voraussetzungen des Sozialismus zu verstehen und damit auch sinnvoll nach den Formen des Übergangs suchen zu können.

und doch wieder mitmischt
Zunächst aber hatte ich die Hoffnung, durch die allgemeine Ernüchterung der arg gebettelten Sozialisten könnte langfristig von unten eine neue geläuterte saubere politische Kraft entstehen. Ich hoffte auf eine weltoffene, beständig sich selbst kritisierende Partei. Sie könnte sich, getragen vom schwer zu erarbeitenden Vertrauen des Volkes, gestützt auf den westlichen Reichtum und nicht auf den 17er und 45er Nachkriegsmangel der globalen Hinterhöfe als diejenige Kraft entwickeln, die tatsächlich eine neue Lebens- und Arbeitsweise begründet. Diese Hoffnung verging mir, als ich mit meinem Engagement plötzlich wieder treu dienend erneut am Aufbau von Herrschaftsstrukturen beteiligt war. Wieder wurden führende Persönlichkeiten auf den Sockel gehoben, wieder knüpfte die breite Mitgliedschaft genau daran ihre ganzen Hoffnungen. Die Parteispitzen konnten die Partei über die Medien und über Drohungen mit Liebes- und Geldentzug (letzteres wirkt bei den Funktionären) dirigieren usw. usw. Nix mehr von viel Bewegung und wenig Partei. Nur letztere bleibt übrig. Mit westlich-bürgerlichen Parteien, ihren inneren Herrschaftsstrukturen, mit ihrem virtuosen Spiele auf dem Medienklavier und mit der Planung entsprechender Parteikarrieren war ich durch meine frühere Arbeit einigermaßen vertraut. Sollte sozialistische Politik jetzt darin bestehen, genau dies Spiel auch mitzuspielen, natürlich wieder zum Wohle der Eniedrigten, sozial Benachteiligten, jetzt aber mit pluralistischer, demokratischer, ökologischer, feministischer, pazifistischer Phraseologie? Und meine Partei zeigte sich sogar clever. Die neuen Bestimmer beherrschten schnell das Geschäft und dann auch wieder die eigene Mitgliedschaft. Da erfolgreich, konnte es fast Spaß machen, hier mit zu tun. Bloß wohin ging der Laden? Es war nichts als das alte Spiel aus Ost und West, nur eine neue Variante. Was kann daran überhaupt sozialistisch und demokratisch sein? Nie wieder wollte ich mich engagieren, wenn ich für mich diese Frage nicht zweifelsfrei geklärt war. Meine Ansprüche an die Antwort waren gerade nach oben genannten Erfahrungen viel höher als vor der Wende. Benebelt vom schnellen Erfolg – "Wir sind bzw. ich bin wieder wer!" – , stellten und stellen sich diese Frage ernsthaft nur wenige meiner voll engagierten Genossinnen (bei Genossen kommt es noch viel weniger vor) und dies auch nur in ruhigen einsamen Stunden oder im Urlaub, wenn mal keine Fraktionsvorlagen, sondern ein richtiges Buch gelesen wird, und sich das von Aktionismus zugeschüttete Wissen und Gewissen wieder meldet. War da nicht noch etwas anderes als die Graben- und Positionskämpfe, die Presseerklärung, die fertig sein muß, ehe das Ereignis überhaupt stattfand, der gebannte Blick in die Zeitungsmeldung, die zum Maßstab meiner Wirksamkeit wird, zum Scharfrichter etwa über meine Abgeordnetenexistenz?

Für einen guten Zweck tun wir (fast) alles

"Das ist nun mal so", so das meist unausgesprochene Credo, "in dieser Mediengesellschaft müssen und wollen die Leute verarscht werden, auch die eigenen." Machiavellis Fürst wurde etwa im Berliner PDS-Landesvorstand plötzlich zum heimlichen Manifest. Was für ein überraschender Spaß, auch die westliche Klaviatur der Machtkämpfe zu beherrschen. Es geschieht ja alles für einen guten weitergehenden Zweck.
"Ja? Für welchen denn?" Diese für Politmanager gerade mit demokratisch-sozialistischem Anspruch tödliche Frage wollte ich nie wieder wegschieben. Ein Resultat von Diskussionen mit anderen Suchenden und verschiedener Entwürfe, theoretisch verarbeiteter Erfahrung: Nein, jeder Versuch, ein Sozialismusbild zu entwerfen, das kompatibel mit solchen Politikstrukturen ist, das etwa über Medien und Parteiapparat irgendwelche Massen ergreifen könnte, damit sie einer Partei, sprich deren Führung, die politische Macht übertragen, neue gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, kann zwar zu Macht und zu Diäten führen, muß aber, gemessen am eigentlichen Anspruch, fehlschlagen. Alle diese Wege führen die Führer und die Gefolgschaft nur auf eine unterwerfende Weise in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hinein, vermögen aber nie deren Standpunkt zu verlassen und den der "menschlichen Gesellschaft oder der gesellschaftliche Menschheit" zu erreichen. Was der Herr Marx schon wußte und was ich seit ewigen Zeiten dahersagen konnte, begann ich nun langsam zu begreifen..

Die neue Kraft der Schwachen
An dem Punkt angelangt, nicht mehr von Parteien, Führern und Fraktionen, die fürs Volk natürlich das Möglichste tun, irgendetwas Zukunftsfähiges zu erwarten, mache ich nun eine neue Erfahrung: Anders als unter meinen GenossInnen bin ich überhaupt nicht isoliert. Ich gehöre zum Beispiel zur sprunghaft wachsenden Fraktion derjeinigen Leute, die nicht aus Trägheit, sondern aus politischer Erfahrung und teils auch aus theoretischer Einsicht das traditionelle Partei- und Wahltheater nicht mehr mitspielen. Sie steigen aus dem über den Parlamentarismus vermittelten Konsens der Masse der Bürger mit den Herrschenden (die Opposition spielt hier nur ihren die Herrschaft absichernden Part) aus.
An diesem Punkt angelangt, öffnet sich erst der Blick nicht nur für interessanten theoretische Fragen, die in vielen kleinen Gruppen diskutiert werden. Es macht plötzlich Sinn, sich mit den unterschiedlichste Varianten zu beschäftigen, auf neue Weise zu leben und zu arbeiten, in Assoziationen andere als kapital- und staatsvermittelte Auswege aus den barbarischen Zügen des kapitalistischen Alltags zu suchen. Das Gegenargument der "großen" Politiker: "Das sind alles Sektierer. Das ist alles nicht neu und die Mehrheit dieser Versuche und der entsprechenden emanzipatorischen Bewegungen scheitert immer wieder." Stimmt. Doch die kapitalistische Gesellschaft, für deren Funktionieren immer mehr Menschen zu bloßem Ballast werden, sorgt zunehmend dafür, daß immer von neuem solche Wege gesucht werden. Natürlich sind das für das Politmanagement Nebensächlichkeiten in Bezug auf Wahlen, auf staatliche Macht, auf Regulierungen durch Steuern, Geld, über Medien und die Polizei. Diese paar Bäume ergeben keinen Wald, den das übliche Politgeschäft beachten müßte, weder als Gefahr noch als mögliches Stimmenreservoir. Stimmt und zwar solange bis sich dieser Wald eines schönen Tages wie einst der von Sherwood in Shakespeares Macbeth in Bewegung setzt und die ganze alte Herrschaftsstruktur durch eine schon längst begründete neue Art von Gesellschaftlichkeit aufhebt. "Warum sollte dies heute nicht genauso eine Utopie sein, wie in der Vergangenheit?" wird berechtigt gefragt. Zunächst einmal: Es ist realistischer als die Verheißungen machtorientierter linker Partei- und Wahlprogramme. Doch wenn deren Chancen gleich null sind, sagt dieser Vergleich noch nichts. Wer jedoch nicht herrschaftskonform denkt und handelt, kann sehen und aufgreifen, was in den heutigen Formen kapitalistischer Katastrophen zugleich an Chancen für eine sozialistische Gesellschaftlichkeit steckt. Daher der Optimismus. Was sehe ich da? Unter anderem Folgendes:

Arbeitslosigkeit – ein möglicher Seegen?
Der Ausschluß aus der Lohnarbeit ist für die Betroffenen unter kapitalistischen Bedingungen ohne Zweifel eine Katastrophe. Zugleich verweist das auf etwas, wovon Generationen von Sozialisten bloß träumen konnten: die Produktivität hat ein solches Niveau erreicht, daß der wirkliche Reichtum der Gesellschaft (natürlich nicht der, der sich in Kapital bzw. seiner Verwertung ausdrückt) nicht mehr durch die Masse verausgabter Arbeitskraft bestimmt wird, sondern durch die frei verfügbare Zeit, in der die Entwicklung der Individuen Selbstzweck wird. Wo dies ökonomische Niveau erreicht ist, wird nach Marx erstmalig die Aufhebung der auf Wert gestützten Produktionsweise nicht nur möglich, sondern – soll die Zivilisation erhalten bleiben – auch notwendig. Statt also die Forderung nach Vollbeschäftigung aufzustellen (und zu diesem Zweck dummerweise auch noch mehr Lohnarbeit mit niedriger Produktivität fördern zu wollen, sprich Zwangsarbeit für Dumme), statt von oben zentralistisch an allen möglichen Steuerschräubchen drehen zu wollen (die Herren Schremp, Kopper usw. haben schon mächtig Angst) ist eher darüber nachzudenken, wie emanzipatorische Bewegungen gerade High-Tech-Produktionen unter ihre tatsächliche Kontrolle bekommen könnten.

Der Staat – ein kurzer Disput über die Unmöglichkeit der Selbstverwaltung
Wieso sollte Selbstverwaltungen eine Chance haben, wo sie doch in der Vergangenheit als durchgängiges gesellschaftliches Prinzip immer scheiterten (und scheitern mußte)? Könnte denn zukünftig wirklich die Köchin oder der Dachdecker den Staat regieren? Das hat es schon hinreichend (mit den bekannten Ergebnissen) gegeben. Doch Honecker etwa blieb dabei eben nicht Dachdecker und erledigte sozusagen nebenher als Staatsratsvorsitzender einige allgemeine Aufgaben. Lenins Köchin-Staatslenkerin-Bild war ohnehin mehrfach unsinnig und außerdem auch antimarxistisch. Die Existenz des Staates ist ja gerade der Ausdruck einer noch nicht aufhebbaren tiefen Spaltung der Gesellschaft, Ausdruck einer Notwendigkeit, die die sozialistische Revolution aufheben wollte: die Unterordnung der unmittelbaren Produzenten unter die Unternehmer (oder "sozialistischen" Leiter). Wer aber wie Lenin (dies eine realistische Entscheidung), die Einführung des Taylorismus in die Produktion vorantreibt, kann nicht zugleich ernsthaft fordern, daß die Arbeiter die Manager beherrschen oder gar den Staat führen. Da konnte sich Lenin an Vermittlungsgliedern (Arbeiter- und Bauerninspektion, Gewerkschaften usw.) ausdenken, was er wollte. So konnte die Selbstverwaltung keinen Schritt weiterkommen. Dies Dilemma drückte nichts anderes aus als eben die damalige Unmöglichkeit der Selbstverwaltung, also des Sozialismus. Dies zum ersten. Der Staat ist aber zum zweiten zugleich auch das Ergebnis der Unmöglichkeit, daß die Kapitalisten (oder "sozialistischen" Leiter der Produktion) selbst die Aufgaben zur Durchsetzung ihrer gemeinschaftlichen (Klassen-)Interessen übernehmen. Sie benötigen dazu ihren geschäftsführenden Ausschuß, der auch ihnen gegenüber eine gewisse Macht ausüben kann. Das ist erforderlich, um das kapitalistische (oder real-"sozialistische") Ganze, das heißt eine bestimmte historische Form der Gesellschaftlichkeit, überhaupt am Laufen zu halten. Insofern konnte und mußte der Staat auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse agieren, auch in dem der subalternen Klassen (nämlich solange mit der kapitalistischen Form des gesellschaftlichen Ganzen noch zivilisatorische Potenzen freigesetzt werden konnten). Von einer unmittelbaren Ausübung solcher allgemeinen (Staat-)Aufgaben etwa durch die Subalternen selbst kann noch weniger die Rede sein, als bei Unternehmer bzw. "sozialistische" Produktionsmanager dies der Fall ist bzw. war. Wenn jedoch Verhältnisse entstehen, diese vor allem durch Entwicklungen der Form der Produktion selbst, durch die die Produktionsakteure die allgemeinen Aufgaben selbst wahrnehmen können, wenn diese Aufgaben, das heißt der Staat, wieder in die Gesellschaft "zurück-"genommen werden kann, dann hat sein Stündlein, das des Staat, geschlagen. Dies ist aber eben unmöglich, wenn z.B. Industriearbeit massenhaft in der Form von Lohnarbeit geleistet werden muß (oder aber eben gar nicht stattfindet). Dies war weder 1917 noch 1945 der Fall. Können demzufolge unmittelbare Produzenten nie allgemeine Aufgaben wahrnehmen (im Leninschen Bild: kann die Köchin nie Einfluß auf das Ganze – dies dann nicht mehr Staat – bekommen), ist Sozialismus also ewig unmöglich?

und über Privatisierungen als Indiz für deren Möglichkeit
Selbstverwaltung als gesellschaftliches Prinzip kann also nur durch Aufhebung von Lohnarbeit und durch die Lostrennung allgemeiner Aufgaben vom Staat, also durch die Funktionslosigkeit des Staates, also durch dessen Aufhebung Wirklichkeit werden. All dies hat in kapitalistisch verkehrter Form bereits begonnen. Siehe die galoppierende Auflösung des einst in Ost und West enormen sozialen Netzes und die rasante Privatisierung anderer Staatsaufgaben. Diese Entwicklung jedoch ist unter kapitalistischen Bedingungen für die Mehrheit der Menschen eine Katastrophe. Das kann aber nicht verdecken, daß gerade in dieser Privatisierungen bisheriger allgemeiner, also dem Staat zufallenden Aufgaben eine "zivilisierende Tendenz" des Kapitals steckt. Wer der unvermeidlichen Auflösung des fordistischen Gesellschaftsvertrages durch den nicht gewinnbaren Kampf um die Bewahrung des sozialstaatlichen Netzes mit einem Kampf um die Erhaltung der sogenannten Sozialpflicht des Staates oder des Eigentums entgegentreten will, wer also die bisher allgemeinen Aufgaben beim Staat halten will, der begreift die Betroffenen nur als Leidende, denen der gute Vater Staat (der halt nur die richtigen Regierenden bräuchte) beistehen müsse. ein solcher "Retter" kann unmöglich verstehen, was an dieser Entstaatlichung überhaupt zivilisierend sein und unter welchen Bedingungen die katastrophale Form, unter der es geschieht, aufgehoben werden kann. Er verbleibt gerade an dem Punkt, da der Kapitalismus aufhebbar wird, auf dem Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft, dem des alten Materialismus. Um gesellschaftliche Entwicklungen zu denken, muß er "die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren". Er gehört natürlich zum erhabenen, d.h. führenden, d.h. herrschenden Teil. Wer aber wie etwa der Herr Marx oder auch die Anarchisten über den Kapitalismus hinausdenkend auf die Selbstverwaltung freier Assoziationen setzt, der oder die sieht die in den heutigen Privatisierungen liegenden Chancen. Eine Bewegung zur erhofften Aufhebung des Kapitalismus muß eben nicht wieder wie nach dem Oktober 1917 gezwungenermaßen, "alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates" zentralisieren und damit doch wieder zum bürgerlichen Projekt werden. Heute wäre damit nicht einmal irgendein zivilisatorischer Fortschritt verbunden, was der Osten immerhin noch für sich in Anspruch nehmen konnte. Genau dann, wenn die Produktivität ein solches Niveau erreicht, daß bisher nur vom Staat wahrnehmbare Aufgaben massenhaft auch profitabel von einzelnen Unternehmen erfüllt werden können, dann kann sich die Gesellschaft in Gestalt von frei assoziierten Individuen diese Aufgaben erstmalig wieder "zurück"-erobern, nun im Unterschied zum borniertem Kommunismus der Urgesellschaft auf höchstem Zivilisationsniveau.

Auf der Tagesordnung – Sozialismus
Ebensowenig wie der Ruf Arbeit, Arbeit! kann für Sozialisten die Rettung des (Sozial-)-Staates als letzte Hoffnung des kleinen Mannes auf der Tagesordnung stehen. Ich sehe darin einen Versuch, die Gesellschaft in die unvermeidlich vergangenen "goldenen" Zeiten des fordistischen Kapitalismus zurückziehen. Das wird ebenso vergeblich sein wie es das einstige Beharren auf der real-"sozialistischen" fordistischen Vergesellschaftung war. Solche Losungen spielen heute eher denen in die Hände, die sie als demagogischen als Kampfruf einer nationalistischen oder eurozentristischen schwarz-braunen Bewegung benötigen. Ermunterung verdienen dagegen alle Bewegungen, die sich selbstverwaltend die materiellen Bedingungen ihrer Existenz unterzuordnen versuchen. Wie marginal, unzulänglich und beschränkt sie gegenwärtig auch sein mögen, sie betreiben praktisch die Auflösung von Kapital- und Staatsherrschaft. Genau das ist aber die sozialistische Forderung der nächsten Zeit. Und dieser Forderung arbeitet gerade die massenhaft Aufhebung von Lohnarbeit und die o. g. Entstaatlichung energisch zu. Sozialisten müssen sich der Zukunft zuwenden und diese nicht im Festhalten des Vergehenden suchen. Sie sollten nicht wie der Benjaminsche Engel der Geschichte nur voller Entsetzen zurück auf das Zerstören des Alten schauen und im Versuch dies mit alten Mitteln aufzuhalten, Teil der Katastrophe bleiben. Es wird Zeit, sich endlich umzudrehen und zu sehen, was mensch mit den jetzigen Voraussetzungen für eine sozialistische Gesellschaft anfangen kann.

Möglichkeit und Wirklichkeit freier Arbeit
Lohnarbeit ist eine unvermeidliche Existenzbedingung der Gesellschaft und zwar solange, wie Umfang und Charakter der Arbeit derart sind, daß sie ohne äußeren Antrieb im westlichen Kapitalismus wie im Real-"Sozialismus" ohne den stummen Zwang der Ökonomie und/oder Gewalt nicht stattfinden würde. Der Real-"Sozialismus" mußte die entsprechenden Realitäten anerkennen und trieb die Arbeiterklasse und vor allem die ehemaligen Bauern und Kleinbürger wieder bzw. erstmals in die in die Lohnarbeit, paßte sie gerade mit Hilfe des Taylorismus-Fordismus dieser kapitalistisch-knechtende Form von Produktion an. Die Herstellung von Gebrauchsgütern muß als Warenproduktion erfolgen, die Arbeit also als Lohnarbeit geleistet werden, solange die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit nicht drastisch gesenkt werden kann. Genau dies ist nun aber heute der Fall. Zugleich nimmt die Arbeit in vielen Teilen der Wirtschaft einen anderen, einen freien schöpferischen Charakter an. Genauer gesagt, sie könnte sich unter nichtkapitalistischen Bedingungen der Produktion erstmals zu einer nicht mehr knechtenden Form der Tätigkeit entwickeln. Die allgemeine Krise der tayloristisch-fordistischen Fertigungsweise, die Anfänge von Team-Arbeit, von zunehmenden Selbständigkeiten im Fertigungsprozeß kündigen diese Möglichkeit nur an. Worum geht es? Vor allem durch die Elektronik ermöglicht, gewinnt die unmittelbare Produktionstätigkeit immer mehr den Charakter des Dirigierens, Kontrollierens, Entwerfens. Hierarchien flachen sich ab. Die wissenschaftlichen Fähigkeiten und die der sozialen Kommunikation mit den Vertretern von vor- und nachgelagerten Prozesse bis hin zu den Auftraggebern und Konsumenten gewinnen an Bedeutung. Der bisherige unmittelbare Produzent, der in der fordistischen Produktion eine Lücke in der Maschinerie ausfüllt, also nicht nur dem Diktat des Unternehmers, Meisters, "sozialistischen" Leiters usw. unterworfen war bzw. ist, sondern auch noch dem der Maschinerie (formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital nannte Marx dies), der könnte erstmalig in der Geschichte aus diesen knechtenden Verhältnissen heraustreten und frei tätig werden. Wo sich dies andeutet, geschieht es allerdings wieder in katastrophaler Form. Die Form ist zivilisationsfeindlich dadurch, daß die Teams oder die Selbständigen nicht wirklich frei und materiell gesichert sind, sondern der Hierarchie und der Anarchie der Kapitalverwertung unterworfen. Sie können kann keine wirkliche Entscheidung über das Was und Wie der Produktion fällen und vor allem nicht über das Ob, also über die Sicherheit der Arbeitsplätze. Was uns hier mit der Krise der tayloristisch-fordistischen Produktion auf verheerende Weise entgegentritt, bietet aber eben nichts weniger als die Voraussetzungen dafür, daß die Lohnarbeit als die bisher unumgängliche Form, in der sich die Gesellschaft ihre materiellen Existenzmittel gewinnt, aufgehoben werden kann. Hier entsteht das, was dem Osten einst fehlte – die materiellen Voraussetzung für eine sozialistisch-kommunistische Form des Lebens und Arbeitens. Was tun aber demokratische "Sozialisten"? Anstatt diese Chancen positiv aufzugreifen und eine allgemeine Diskussion über Selbstverwaltungen zu befördern, anstatt zu sehen, was bereits an alternativen Formen des Lebens und Arbeitens läuft, welche Niederlagen und Erfahrungen es gibt, springen sie auf einen alten Zug auf. Einst schnell fahrend steht der schon längst auf dem Abstellgleis. Mit staatlichen Regulierungen der Kapitalverwertung à la Keynes, mit steuerlichen Regelungen, staatlichen Subventionierungen von (Lohn-)Arbeit usw. versuchen sie die kapitalistische Warenproduktion wieder in ein zivilisationsverträgliches Bett zu führen. Es ist ein trauriges Bild, an sich kluge Menschen zu erleben, die zu diesem hoffnungslosen Zwecke zum Beispiel in dem Brei von Giddens, Blair und Schröder herumstochern und sich nach ihrem Selbstverständnis im Interesse ihrer Wähler an der Resteverwertung zu versuchen. Und ein noch traurigeres Bild sind die vielen Menschen, die sich immer noch daran klammern, daß irgendwelche rot, grüne, gelbe oder blaue Stellvertreter für sie die Kastanien aus dem Feuer holen werden.

Sozialismusbilder entwickeln sich in der Bewegung oder gar nicht

Über all das, was in diesen innerkapitalistischen Entwicklungen an Chancen für sozialistische Bewegungen enthalten ist, muß und kann noch viel gesagt, geforscht und gestritten werden. Wenn aber an meinen Überlegungen nur irgend etwas dran ist, dann hat dies Konsequenzen für die Formen von sozialen Bewegungen, durch die die kapitalistischen Verhältnisse aufgehoben werden können. Dann kann es nicht um eine neue Macht gehen, die andere zu ihrem Glück führen will (oder zwingen, was das gleiche ist), sondern "nur" darum, die alten Verhältnisse unmittelbar durch die Begründung neuen Lebens und Arbeitens aufzuheben. Auch für die Entwicklung der dafür erforderlichen Mentalitäten, also für die Aufhebung knechtischer Moral und Autoritätsgläubigkeit, für die Herausbildung von Fähigkeiten zum zivilisierten Austragen von Konflikten und zur Kooperation usw. können die gegenwärtigen postfordistischen Entwicklungen Anstöße geben. Sich wirklich entfalten und gesellschaftlich relevant werden können solche freiheitlichen Mentalitäten jedoch nur innerhalb praktischer emanzipatorischer Bewegungen, nicht in hierarchischen Strukturen, nicht über Stellvertreter in der sogenannten repräsentativen Demokratie. In diesem Sinne kann ich zustimmen, daß im Weg bereits das sozialistische Ziel stecken muß. Nicht die Vorgabe konkreter Strukturen einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft kann von Sozialisten sinnvoll verlangt werden, wohl aber das Engagement in solchen radikaldemokratischen sozialen Bewegungsformen, die real die kapitalistischen Beziehungen sprengen. Theorie entwickelt sich dort als Selbstbewußtsein der Bewegungen und nicht als Produktion von Vorgaben. Ein Sozialismusbild entfaltet sich mit diesen Bewegungen oder gar nicht. Wer wissen will, was Sozialismus ist, muß in diesem Sinne aktiv werden. Anders kann er oder sie es nicht erfahren, von mir gleich gar nicht. Was ich aber als Ergebnis meiner Erfahrungen in zwei Systemen ziemlich sicher mitteilen kann, ist dies: Sozialistische Wege und Ziele sind unvereinbar mit allen Formen der Politik, die mit der Rekonstruktion von Herrschaft, von Manipulation, mit der Herausbildung von Führern, Partei- und Staatsapparaten usw. verbunden sind. Nicht nur der einstige "demokratische" Zentralismus" des Ostens, auch die politischen Instrumentarien der bürgerlichen Gesellschaft, der Parlamentarismus und die auf Macht gerichteten Parteien transformieren selbst die basisdemokratischste Bewegung, das breiteste emanzipatorische Engagement in ihr Gegenteil. Der Prozeß ist bei J. Agnoli und anderen hinreichend beschrieben und an den Fischers, Schröders & Co selbst für den langsamsten Denker unübersehbar augenfällig. Es verbietet sich für Sozialisten, wider mögliches besseres Wissen solche Entwicklungen in irgendeiner Variante wiederholen zu wollen.

Ulrich Weiß