Im nahen Westen

 

Es ist ist ein heißer Sonntag, der 18. Juli. Am Nachmittag, zwei Stunden später als vereinbart, finden wir im Weserbergland unser Reiseziel. Wie in ein Hufeisen fahren wir von Norden her hinein in ein kleines Gebirge, in den Vogler. Es gibt nur diese eine Zufahrt. Vorn, rechts und links bewaldete Hänge. Dort, wo die Welt dann zu Ende ist, da liegt Breitenkamp. Wir fahren die Dorfstraße hoch, finden bald den von unserer Freundin beschriebenen Briefkasten. Dem gegenüber steht auch das kleine Fachwerkhaus. Gisela hat uns schon entdeckt. Sie kommt schnell vor zum kleinen Bach neben der Straße und hält uns davon ab, auf einem Schotterweg zu halten, der scheinbaren Zufahrt auch zu ihrem Haus. "Der gehört dem bösen Nachbarn." Ohne irgendeinen erkennbaren Vorteil grenzt dieser gerade sein Anwesen von dem Giselas durch einen Zaun und eine doppelte Friedhofshecke ab. Nun kann unsere Freundin auch nicht mehr die breite Brücke über den Bach nutzen, um direkt zu ihrem Haus zu kommen. Gisela hat von den einstigen Besitzern eines größeren Gehöftes, ältere Leute, mit denen sie sich gut verstand, ein schmales Stück Land erworben. Darauf steht das Geheuer-Haus. Im 19. Jahrhundert war dies die zur Wirtschaft gehörige Unterkunft für angeheuerte Landarbeiter. Das Geh-, Fahr- und Leitungsrecht vom gemeinsamen Hofeingang zur einstigen Arme-Leute-Herberge wäre gegen den jetzigen Eigentümer des Hofes eventuell einklagbar, aber, aber, aber ...

Ja, ja, das ist so: Willst du irgendetwas auf die natürlichste – also andere Menschen nicht schädigende – Weise nutzen, kläre erst die Eigentums- und sonstigen Rechtsverhältnisse. Sie könnten gegen dich verwendet werden. Hineingestoßen ins Wessiland und dessen Mentalität kennen wir das zur Genüge und doch wehrt sich das einst von solchen Zwängen freie Gemüt immer wieder dagegen, dies als natürlich anzunehmen. Nun, wir sind hier Gäste und müßten auch nicht selbst die Folgen eventuelle Renitenz tragen. Also achten wir darauf, daß nicht ein Rad auf fremden Grund steht. Wir fahren statt dessen auf der schmalen Straße weiter hoch, um auf einem schön angelegten Gemeindeplatz zu wenden. Von hier hat man einen weiten Blick die Dorfstraße hinunter. Zwischen zwei Birken steht auf dem Platz auch eine Bank, umgeben von weißen Steinen. Zwischen diesen entdecke ich ziemlich viel Unkraut. Dieser unschuldige Verstoß gegen die Ordnung verschafft mir wieder gute Laune. Ich widerstehe dem mir durch Pionierleiter, Lehrer, NAW-Einsätze, HGLer (also mich selbst) indoktrinierten Drang, auf öffentlichem Land diesen unerwünschten Nebenwuchs, so das westliche Beamtendeutsch, zu beseitigen. Dies nicht nur, weil ich auch hier zuvor erst die Rechtslage klären müßte. Vielmehr bricht nun auch bei mir aus der Tiefe der verletzten Seele eine dreiste ostdeutsche Gehässigkeit hervor. Selbst dieses unschuldige Unkraut genieße ich als ein Indiz für das, was in der veröffentlichten Meinung angeblich nur ein Markenzeichen des Ostens war, für eine fortschreitende Verrottung auch des Westens. Nicht einmal die Pest hatte es im Mittelalter geschafft, bis hierher vorzudringen. Doch für die seit der Wende unentwegt genüßlich vorgeführte ostdeutsche Verlodderung ist offensichtlich auch die Abgeschlossenheit des Voglers kein Hindernis. "Ha, auch hier in der besten aller Welten Marodes, Zerfallendes." "Na, übertreib mal nicht", bremst mich Ines. "Tschuldigung, liebe Brüder und Schwestern."

Giselas Fachwerkhaus steht mit der Stirn zur Straße, davor liegt leicht abfallend bis zum kleinen Bach eine schmale, saftige Wiese. Vom Gemeindeplatz wieder herunterkommend zerfahren wir diese nun. Anders können wir nicht aussteigen und ausladen. Das ist aber eh egal, denn die Wiese wird noch in unseren Urlaubstagen zugunsten einer Schotterfläche weggebaggert. Das verlangen der Nachbar und die regionale oder bundesdeutsche Wohlstandsordnung. Letztere erklärt ein bis zwei Autostellplätze auf bebauten Grundstücken zur Pflicht. Genau jene Vorschrift hat übrigens unsere Freundin Robin in Kalifornien aus dem schönen Saratoga in wirtschaftliche Probleme und schließlich zum Umzug in den tiefen Redwood getrieben – eine andere Variante der gleichen Geschichte. Arme kleine Welt.

Zuerst fällt uns an der Giebelseite des alten Geheuer-Hauses ein großes Scheunentor auf. Links daneben im Erd- und Obergeschoß je ein Fenster. Dahinter liegt ein Arbeitszimmer mit bester PC-Ausrüstung. Dahin gelangt man nur im Halbdunkel über Balken balancierend, vorbei am unfertigen Badezimmer. Wenige Tage später vermag dieses High-tech-Zentrum sogar aus der Pankower Uhlandstraße subversive Schriften zu empfangen. Im Giebelfenster darüber haben sich Heike und Björn eingerichtet. Neugierig gelangen wir später dorthin und zwar über eine Stiege, die wir trotz Übung und Bergsteigererfahrung auch noch nach einer Woche nur mit dem Blick zu den Stufen begehen. Wir sahen dann, daß die Schlafstätte beider von einem Moskitonetz eingehüllt ist. Es sieht aus wie ein Himmelbett. In der ersten Nacht gleich von Fliegen belagert, sind wir dann froh, daß die besorgte und ganz und gar nicht wehleidige Gisela uns ihr Netz abtritt.

Doch nun gehen wir erst einmal um das Gebäude herum auf dem noch vorhandenen Grün, entlang an einem kleinen Vorgarten mit Stock- und Kletterrosen. Vor dem Eingang liegen große Platten, bester Weser-Buntsandstein mit warm-brauner Farbe und gleichmäßiger leicht schiefriger Struktur. Der Stein muß ziemlich abriebfest sein. Nirgends, auch nicht in den ältesten Gebäuden, haben wir hier in der Gegend solche stark ausgetretene Stufen gesehen, wie wir sie etwa vom sächsischen Sandstein kennen. Dann ein kleiner Flur. Es riecht eigenartig. Ich weiß nicht recht wonach, vielleicht nach Stein oder Erde, jedenfalls genauso wie in dem alten Haus der Oma Liddy in Marktgölitz, Thüringer Wald. Nur war dies mit Schiefer statt mit Buntsandstein ausgelegt. Rechts im Flur besagte steile Stiege, geradeaus eine zu Dusche mit Toilette umfunktionierte verrußte Kaminecke, verdeckt nur von einem Vorhang. Den habe ich, sooft es ging, zur Seite geschoben, von wegen Feuchtigkeit, Holzbalken und Hausschwamm. Ich bin nämlich im doppelten Sinne E.H.-erfahren.

Rechts vom Flur, Kopf einziehen!, kommt man in die Küche. Sie ist ausgelegt mit Steinplatten. Eine kleine Kochmaschine ist hier die einzige Heizmöglichkeit, so wie in anderen Zimmern transportable Öfen – wahre Holz- oder Kohlenfresser. Durch’s Fenster, es ist nach außen zu öffnen, schauen Stockrosen herein. Davor steht ein Tisch mit Sitzbank, daneben ein Küchenschrank, von Heike, der Tischlerin, gebaut. Ich erkläre unvorsichtigerweise, mir auch einige Schreinergeheimnisse abgucken zu wollen. Als die Meisterin mich später beim Wort nimmt, kneife ich, beeindruckt von der Werkstatt. Doch davon später. Gegenüber dem Fenster geht es durch das entkernte Fachwerk zum Kühlschrank, zum E-Herd und zur Spüle. In offenen Regalen Töpfe, Geschirr und allerlei Küchengerät.

Wieder zum Flur, die Stiege hoch. Oben sind mehrere Zimmer. Wir bekommen das schönste. Nach Süden hin schauen wir über die Scheune und den kleinen Garten hinweg auf Wiese und Wald. Die Deckenbalken sind eigenartig rund mit Putzträgern und Lehm umkleidet, einige Schadstellen zeigen das, und mit weißer Farbe gestrichen, so wie alles hier. In den Zimmerecken Risse, der Fußboden hat sich zur Mitte hin stark gesenkt. In unser Bett kommen wir durch einen niedrigen Fachwerkdurchgang. Die Schlafstätte füllt fast den ganzen Verschlag aus. Durch ein Süd-Fenster, schräg in die Balkenlage eingepaßt, fällt morgens gegen sieben Uhr die erste Sonne und weckt mich. Wie aus weiter Ferne drängt mich zwar immer noch irgend etwas, doch schnell aufzuspringen, auf den Berg zu rennen, in kalte Seen zu springen, Kinder aufzuscheuchen, zum Bäcker zu fahren, den Tisch zu decken ..., doch im Unterschied zu denkwürdigen Reisen mit den süßen Kleinen tue ich das alles nicht und tauche, so als müßte ich dort gleich noch das Allerwichtigste entdecken, wieder ein in ein Dämmern, in dem Unglaubliches zusammenpaßt. Dreht es uns gegen Neun tatsächlich aus dem Nest, hat, uns beschämend, Gisela dann immer alles schon gerichtet.

Unser Moskito-Netz haben wir oben am Balken befestigt. Die Belästigung durch die Fliegen übertreibend liegt nur Ines darunter, bekleidet wie Eva und schön wie Schneewittchen – ein wunderbarer Hochsommer. Wie in der ersten Nacht üblich spannt sie allerdings erst einmal lange auf Ungewisses aller Art, vielleicht auf den Marder, der die Zündkabel vom Kommune-Auto durchgebissen haben soll oder auf die zwei wilden Pferde des anderen Nachbarn. Am Tag jagen diese auf dem höher gelegenen Grundstück neben dem Haus hin und her, getrennt von Giselas Küche und auch von unserem Schlafraum nur durch das dünne Fachwerk und einen Meter Luft. Je nach Wetter fliegen Staub oder Schlamm gegen das Küchenfenster. "Die Pferde leiden an Hospitalismus", diagnostiziert Gisela im Streit auch mit diesem Nachbarn. Der erklärt sie zur ahnungslosen Städterin. Jene spricht ihm daraufhin jegliche soziale Kompetenz ab usw., usf.

Mehr noch als die Pferde bringt mich allerdings die Gülle auf die Palme. Die läuft vom Misthaufen eben dieses Nachbarn, des einzigen Vollbauern im Dorf, den Hang hinunter über Giselas Wiese in den Schuppen. Ich muß regelmäßig durch stinkenden Brei waten, will ich meiner Leidenschaft nachgehen, das Gras auf der hinteren Wiese mähen und das Heu wenden. "Das ist halt so auf dem Dorfe. Wem es nicht paßt, der kann sich davon machen." So oder ähnlich habe dieser Nachbar bereits mehrere Nachbarschaftskontakte auch bezüglich der Jauche beendet. Einmal soll Björn schon voller Wut, den Rasierschaum noch auf der Backe, in dessen Gehöft gestanden haben. Oder war´s umgekehrt? Kommt Björn, der vielleicht ein ganzes Fachwerk auf einmal anheben kann, in Fahrt, dürfte mit ihm nicht gut Kirschenessen sein. Der Nachbar wiederum ist in der ganzen Gegend als Schläger bekannt. Das ist ihm allerdings überhaupt nicht anzusehen, wenn er, geradezu Würde verbreitend, zum Beispiel hoch zu (Hospitalismus-)Roß die Dorfstraße entlanggeritten kommt. Mein Vorschlag: Die Gülle gleich weiterleiten hinunter auf das Grundstück des anderen Nachbarn, des Friehofshecken-Fans. Beide sind befreundet und es scheint mir sehr naheliegend, daß diese Herren tatsächlich gern die Städter vertreiben würden. Wenn einer aber die Gülle des anderen genießen darf, ist vielleicht mit dieser Kumpanei bald Schluß. Wie auch immer. Das Leben hält hier nette Geschichte bereit.

Zurück zum Haus. Wir wußten schon vorher, daß es einst für arme Leute gebaut war. Doch es übertrifft alle unsere Erwartungen. Gelegen genau in der Mitte zwischen Berlin/West und Bonn wurde es vor vielleicht 20 Jahren im Drange nach gemeinschaftlicher einfacher Lebensweise (wenigstens an Wochenenden und im Urlaub) von vier einstigen 68ern übernommen. Doch wie es halt so ist, die Bedürfnisse differenzierten sich, ein Freund zum Beispiel mußte sich nach der Maueröffnung ein Hausboot kaufen, um die eroberten Seen zu genießen, und so blieb Gisela letztlich als alleinige Nutzerin übrig. Schließlich mußte sie auch noch einen schnöden Rechtstitel erwerben, ein, wie sie immer wieder betont, nur erzwungenes, ihr eigentlich zu wideres Mittel zum guten Zweck. Wohl bewußt, daß wir jetzt gerade die Nutznießer dieser Geschichte von der zerfallenen Gemeinschaft und dem bürgerlichen Rechtsakt des Eigentumerwerbs sind, stimmen wir in das Lied von der Dialektik der guten Zwecke und der bösen Mittel gar nicht erst ein. Wir kennen viele solche Melodien und Texte bis zum Ende, vom privaten Liedchen bis zur staatlichen Hymne. Wir haben es seit den letzten DDR-Jahren oft erfahren, was passiert, macht man diese Traditionen toter und lebender Geschlechter und die jeweils selbst erlebte Logik von guten Zwecken und bösen Mitteln offen zum Gesprächsthema (jedenfalls gegenüber Leuten, die ihre eigene Wirklichkeit trotz aller Probleme als noch einigermaßen funktionierend erleben). Das kann so ernüchternd, so ent-täuschend sein, daß es eher niederdrückt, als erhebt, Freundschaften eher zerstört als festigt. Ines und ich können es erst Tage später formulieren: Gerade hier im als Feriendomizil genutzten Geheuer-Haus, in dem über Generationen hinweg ein wirklich einfaches Leben präsent war, hat jenes Einfache jeglichen Ernst verloren. Es bietet heute den Raum für ein nostalgisches Genießen der Ästhetik einstiger erzwungener, unausweichlicher Armut, das auch uns fasziniert. Spiele mit der Einfachheit können wohltuend sein für vom Konsum gesättigte Menschen. Solche Urlaubsspäße gehen auch völlig in Ordnung. Sie sind ein Beleg für Luxus. Als Beweise für heutige Gestaltbarkeit eines einfachen, zugleich guten sowie den näheren und ferneren Gemeinschaften gefälligen Lebens sind sie dagegen völlig ungeeignet. Es ist wunderschön hier, doch Giselas Hoffnung, daß dies irgend etwas mit Zukunft und den dafür erforderlichen Mentalitäten zu tun habe, schlägt uns eher aufs Gemüt. Wir wohnen hier in einem wunderbaren Museum, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Der neue Tag ist da. Nicht gerade im Frühtau, sondern fast schon in der Mittagshitze steigen wir zu Berge. Alle Wege führen auf den Kamm. Verlaufen ist eigentlich unmöglich. Ein Stündchen und wir stehen, angeregt zu großen Gesten, auf dem Bodoturm. "Wer hat dich, du schöner Wald ... aufgebaut da droben" und dich, du mäandernde Weser da unten, und dich, du AKW am Horizont, und euch, ihr nahen Himbeeren? Wegen letzterer wird die Wanderung unterbrochen. Himbeermarmelade ist Giselas Spezialität. Auch Heike beherrscht neben dem Bau von Klosterdächern und dem Veranstalten von Plenen in der Kommune auch das Kochen von Himbeergelee. Es wird also gesammelt bis alle Behältnisse voll sind. Dann geht’s weiter auf zur Königszinne. Tief unten die Weser, Herr Münchhausen samt der Stadt Bodenwerder sowie zwei Straßen- und einer Eisenbahnbrücke über den Fluß. Es gäbe in der Fußgängerzone auch einen Schuhladen, verspricht uns Gisela. In diesem könnte Ines Rettung finden. Wegen der aggresiven Westluft, vielleicht aber auch, weil sie 10 Jahre unbenutzt friedlich im Keller lagen, hat einer ihrer wunderbaren Zeha-Einlaufschuhe plötzlich und unerwartet den Geist aufgegeben. Die Plasteschicht, die einst den Schuh so elastisch machte, ist völlig zerbröselt. Ohne deren Halt liegt die Sohle in sonst noch unverbrauchter Schönheit auf einmal auf dem Waldweg. Und das oben auf dem Berg, sehr unangenehm. Also geschwind zu Tal, die Sohle natürlich im Rucksack. Dann entlang der Weser, hier summt es nur so von Radfahrern. Manche dösen hitzeschlapp im Schatten unter Sträuchern. Daneben rattern unentwegt kleine Mähmaschinen über die Uferwiesen und halten die Grashälmchen fast kurstadtfein kurz. Nun hinüber über die Brücke und hinein ins Städtchen. Doch ehe der Mensch Schuhe sucht, braucht er Erfrischung. Wir entscheiden uns für einen Platz unter den Bäumen und für italienisches Eis. Gisela und ich wählen davon einen kleinen Berg, Ines – noch ohne Sohle, aber mit guten Nerven und Magen – ein Gebirge.

Als wir weiter wollen, da passiert es: das zweite Exemplar der einst begehrten Zeha-Serie verabschiedet sich. Der Schuh-Verkäuferin verrate ich später das Geheimnis vieler DDR-Olympiasiege. Nein, die lassen sich nicht mit leistungsfördernden Mittelchen erklären. Es lag auch nicht nur an der länger als im Westen lebenden, nun aber auch im Osten völlig zusammengebrochenen Bereitschaft der Deutschen, sich nicht nur wegen des großen Geldes zu schinden, sondern auch wegen Ruhm und Ehre des Ganzen oder auch nur aus Spaß an eigener qualvoller Selbstüberwindung. Nein, das große Geheimnis vieler Erfolge waren vor allem diese guten Schuhen für damals 29,-- MDN und zugleich – das ist kein Witz, sondern Dialektik –, der Mangel an ihnen. "Sie wissen sicher, was ich meine." Sie ahnt es. "Solche Schuhe haben im Osten bestimmt nur die Besten bekommen und natürlich noch diese Parteisekretäre." Und mir fällt mit Schrecken ein: Wie ist überhaupt Ines, die langsamste Sprinterin des ganzen Ostens, zu diesem Goldstaub gekommen? Sei es wie es sei. Jedenfalls bestätige ich der Verkäuferin ihre gediegenen Kenntnis. "Ja, und weil eben nur die Besten, bis auf die Funktionäre natürlich, solche ausgezeichneten Produkte bekamen, hat sich die ganze Ostjugend, sofern sie überhaupt irgendwie laufen konnte, mächtig angestrengt. So sind sie den satten Westdeutschen einfach davongesprintet." Sie nickt: "Gut, daß sie das mal sagen. Das glaubt mir ja sonst keiner: Der Mangel treibt zu hohen Leistungen. Nicht nur im Sport im früheren Osten. Das sieht man noch heute bei den Negern und den Japanern. Die hängen uns doch alle noch ab." "Richtig", schmiede ich an der deutschen Einheit, "und Gott sei Dank wissen das nun endlich auch die Regierenden. Das Volk muß durch Mangel zu Höherem getrieben werden, sonst ist der Standort hin." (Tschuldigung, lieber Leser, das mit den Negern habe ich bösartig erfunden. So etwas spricht ein solider deutscher Mund gegenwärtig gar nicht aus.)

Zurück von dieser völkischen Erbauung zum Eisverzehr im schönen Bodenwerder. Hier läßt also auch das weltweit letzte aktive Zeugnis einer großen Zeit, der zweite Schuh an Ines´ Füßen die unterste Schicht fahren. Aber eben nur halbherzig und das ist das eigentliche Unglück. Der Laden mit der einsichtigen Verkäuferin ist noch weit und an Ines schlappt es immer herum, bei jedem Schritt "schlapp, schlapp". Die Vögel, die Münchhausen einst durch die Luft trugen, sind fest in einem Brunnendenkmal verankert, uns also nicht zugänglich. Eine andere Idee haben wir nicht. Und ausgerechnet jetzt ist es so still in dieser Fußgängerzone. Der Landscaper spritzt nicht mehr mit seinem Wasser rum. Der LKW, der mit großem Getöse gerade noch das Mehl durch einen Schlauch in eine Bäckerei pumpte, ist auch weg. Also völlige Ruhe. Dann: "Schlapp." Alle Welt horcht auf. Suchende Blicke heften sich an Ines’ Wade. Sie versucht es mit Schlurfen, Stehenbleiben. Dann der nächste Schritt: "Schlapp, schlapp". Gewitterwolken brauen sich zusammen, aber noch bleibt alles ruhig. Kein Wind, daür "schlapp, schlapp". Dann endlich der Schuhladen – bis 14.30 Uhr geschlossen. Ines, das öffentliche Ärgernis, geht keinen Schritt mehr. Ich belästige zwischenzeitig den Ortsfotografen mit einer dummen Frage zur Unschärfe meiner Bilder. "Nein", meint er, "wenn sie sich bei der Spiegelreflex an der Bruchkante orientieren", was ich natürlich tue, "dann hat die Schärfe der Bilder nichts mit ihrer Brille zu tun. Aber schauen sie, das Objektiv", er wackelt daran herum, "das schlappert nur so ‘rum." "Das ist doch ein Westapparat. Wissen sie was der gekostet hat?", so ich. "Na und?", so er. Ich: "Aha, da habe ich es wieder." Er: "Was?" "Es schlappt auch hier im tiefsten Westen." "Ich verstehe sie nicht." Ines ist nicht da und ich will loslegen, etwa so: "Wieso nicht? Sogar im Radio habe ich das heute gehört. Nicht einmal die Bundeswehr ist weltweit einsetzbar. Man muß sich das mal vorstellen, jetzt, wo nun endlich mal gezeigt werden kann, was wir so drauf haben, lauter Schlaffies und untaugliches Gerät. In der NVA war das noch ganz anders, da herrschte Ordnung, unsinnigerweise, denn da war immer vom Frieden die Rede. Aber gerade jetzt, wohin man auch schaut, Verfall. Bei den Objektiven fängt’s an. Und wo hört’s auf?" Nein, ich sage das alles nicht laut. Panik ist auch nicht am Platz. Denn selbst nach dem nächsten GASTSCH (größter anzunehmender Staats-Schlapp, also so etwas wie ein GAU beim AKW von nebenan) geht’s Leben irgendwie weiter. Die Ossis selbst sind der Beweis. Sie meckern sich ja nun durch die ganze Welt, also leben sie.

Ines jedenfalls ersteht (völlig unangemessenes Ostwort) im völlig leeren Laden etwas Weißes mit drei gelb abgesetzten Streifen. Das sind Adidas, produziert in Vietnam, daher wohl das Gelb. 59 Westmark, sehr preiswert, trotzdem etwa das Doppelte der damaligen Alu-Ships für die Zehas. Ergo: 2:1. Der bankrotte Osten steht für 1, der goldene Westen für’s Doppelte. Überholen ohne einzuholen. Egal, Ines schwebt in ihren neuen Tretern förmlich davon. Ich ziehe noch zwecks Wiederverwendung aus den alten Galoschen die gut erhaltenen Schnürsenkel. Das ist meine Art, die Marktwirtschaft auf den Hund zu bringen: Ich produziere einen Verkaufsstau von Schnürsenkeln, behindere damit deren Neuproduktion und treibe so letztlich die Befreiung aller von Arbeit überhaupt voran. Die von meinem widernatürlichen Tun befremdete Verkäuferin drängt mir noch einen Salamanderbeutel auf und eine Belehrung: Hinter der Passage XY befinde sich der zentrale städtische Schuh-Ablage-Container. Sprich: Ich soll nicht mit alten Latschen aus ihrem Geschäft kommend gesehen werden und vor allem die skalpierten Zehas nicht vor ihr Geschäft schmeißen. Einem langhaarigem östlichen Schnürsenkelwiederverwender ist das ja auch zuzutrauen. Ich verspreche alles und halte nichts. Die Salamandertüte habe ich auch schon für eine neue Karriere als Dreckige-Wäsche-Beutel vorgesehen. Doch was mache ich mit den letzten Zehas, die ich je in meiner Hand gehabt haben dürfte? Ich lege sie schnöde in den ersten wunderbar gestylten Kübel in der Bodenwerderschen Nobelstraße ab. "Ach ja", so mein Abschiedsgebet, "da liegt ihr nun, verlassen von Socken, Senkel und Sohle auf Plastedosen und anderem Müll. Doch regt euch nicht auf. Ihr habt einen herrlich freien Blick in den Westhimmel. Schaut, euch zu Ehren donnert es auch schon."

Tatsächlich vertreibt der drohende Himmel alles Sinnieren über die Vergänglichkeiten alles Irdischen. Schnell weg! Doch wohin? Über die Weserbrücke, der neuen Zeit, der Kommune entgegen. Halt noch einen Blick aufs Alte. Im Jahre 1691 (?) stand das Weserwasser schon einmal viel höher als bis zum Hals, nämlich bis zur 2. Etage der Bauten an der Uferpromenade. War damals schon alles versiegelt! Wir schreiten flott aus, sind bald auf der Landstraße entlang der Lenne. Das ist ein sauberes schnell fließendes Flüßchen. Die ersten Tropfen erwischen uns am stillgelegten, vor sich hin rottenden Bahnhof mit einer verrostenden Dampflok. Dann pladdert’s richtig los. Doch, wo die Not am größten, da hupt auch schon die Hilfe. Ein VW-Passat hält, darin Renate (?), die ebenso freundlich wie bestimmend dreinschauende junge Bäuerin vom Voglerhofer, und deren blonde, vielleicht zwölfjährige Tochter (letztere verfüge über eine ausgeprägte soziale Kompetenz, so wird uns später in der Annahme erläutert, daß wir uns darunter etwas vorstellen können). Sie retten uns vorm Gewitter so wie mich am nächsten Tag die frische Milch aus Renates Bio-Laden vorm Verdursten.

Zwei Kurven, da ist schon Buchhagen und die etwas abseits gelegene Kommune. Wir springen aus dem Wagen und retten uns durch ein riesiges, offenes Tor ins Trockene. Jetzt sind wir da, genauer in der Werkstatt der Lenne-Bau-GmbH von Heike, Börn ... und sechs (?) weiteren Gesellschaftern. Alle sind Handwerker, zwei Meisterin. Die Werkstatt ist in der sehr großen Scheune einer ehemaligen Mühle eingerichtet. Die Mauern des mehrstöckigen Mühlenhauses scheinen für die Ewigkeit gebaut. Sie sind natürlich aus Weserbuntsandstein. Die Scheune ist mit gewaltigen Steinplatten aus gleichem Material gedeckt. Ich nehme eine derartige Platte mit. Mein Thüringer-Schiefer-Dachdecker-Onkel Afred kann sich später über diese schweren Platten auch nur wundern. Das Dach und die zahlreichen Räume des mehrgeschossigen Mühlengebäudes (darinnen befanden sich auch Wohnungen) sind in einem üblen Zustand. Die Balken sind zum Teil verrottet, manche Decken durchgebrochen, der Blick zum Himmel, aus dem es weiter schüttet, ist oft frei. Einige innere Wände sind abgesackt oder von Rissen duchzogen. Alte Möbel, manches angeschimmelt, Geräte, Schallplatten liegen rum. Hier wird erst einmal nichts getan. Die Werkstatt, Geräte, der Gabelstabler und das Wohngebäude der Kommune sind vorerst wichtiger.

Zurück in die große Scheune. Sie ist bereits saniert, trocken. Hier wird richtig gearbeitet, unter anderem an einer großen Dreiflügel-Haustür. Die Seitenflügel verjüngen sich oben bogenförmig. Ihr Schwung wird wieder aufgegriffen von einem waagrecht beginnenden und dann sich hoch in die Senkrechte öffnenden Bogen auch aus Holz, der über alle drei Flügel gelegt ist. Eine eigenartige Kombination aus praktischer Funktion, dem Eindruck eines Jugendstilaltars und wunderbarer neuer Fenster, die wir auf unserer Reise noch im Limburger Dom bewundern sollten. Das Tür-Kunstwerk ist offenkundig bereits zur Bewunderung durch die Gäste des sonnabendlichen Kommunefestes aufgestellt. Dies, die hier gelagerten Dachbalken, Bretter und Bohlen sowie die Maschinen und Späne, also die allgegenwärtigen Belege von ernsthafter Arbeit beeindrucken uns. Dem ist die Spielerei eines Berliner Hobbyhandwerkers völlig unangemessen. Mein unvorsichtig bereits geäußertes Vorhaben, mal einen Tag mitzuwirken, erscheint mir hier in der Werkstatt nur noch albern. Ich würde bloß dumm rumstehen und die Leute von Wichtigerem abhalten. Überall Arbeit über Arbeit. Mensch könnte sich hier schnell völlig verlieren. Ohne ordnende Hand auf jedem Fall. Wie ist das vereinbar mit dem Konsensprinzip, das in der Kommune herrschen soll? Anders als beim Lesen von Giselas verführerischen Artikel über das Projekt versetzt uns berreits das, was wir in der Mühle und in dieser Werkstatt sehen, in unruhige Schweigsamkeit.

Jedenfalls haben die jungen Handwerker den unmittelbar benötigten Teil der unter Denkmalschutz stehenden gesamten Mühlenanlage erst einmal vorm Verfall gerettet. Auf dem Kommune-Fest erfahren wir später von gewichtig daherschreitenden einheimischen Männern, daß die Leute aus dem Dorf heilfroh sind, daß sich Lenne-Bau der Fast-Ruine angenommen hat. Als Björn ihnen auch die ganz desolaten Teile der Mühle zeigt, äußern sie voller sachlicher und anerkennender Zuversicht, daß, wenn die Handwerkergemeinschaft das ganze Ensemble in 10 Jahren in Ordnung gebracht haben sollten, sie dann eine große Leistung vollbracht hätten. So etwas könnten allerdings auch bloß Leute wie sie sich ernsthaft vornehmen.

Als der Regen nachläßt, gehen wir in den Garten. Er liegt oberhalb der Mühle und der Wohnzeile am Hang. Beeren, Bohnen, anderes Gemüse, auch Artischocken und Zuchini, zwei eigenartige Enten, die die Schnecken fressen sollen, usw. usw. An anderer Stelle schwarze Karnickel. Auf der Wiese acht (?) Schafe und eine abenteuerlich hohe Schaukel, auf die ich nur ungern ein Kind lassen würde. Ein Absturz könnte hier der letzte sein. Vielleicht 40 Prozent der unmittelbaren Gartenfläche sind überhaupt nicht bestellt. Im Unterschied zur Werkstatt scheinen hier eher idealistische Probierer am Werk zu sein, die mit der Schönheit (es wurde begonnen, mit Trockenmauern Terrassen anzulegen) und Ökologisch-Modischem begannen, doch vom Alltag in eine andere Richtung gedrängt wurden. Klar ist, in der hier notwendigen Dimension läßt sich das Gemüse (von den Blumen ganz zu schweigen) überhaupt nicht so nebenher, quasi als Hobby anbauen. Es sei denn eine handvoll echte Hobbygärtner wären hier in all ihrer Freizeit tätig. Dann wäre es vielleicht ein Schmuckstück für Schöngeister und Ökofreaks, doch für den Eigenbedarf der Kommune oder gar für den Verkauf ist hier eher profaner alltäglicher Gemüseanbau einer traditionellen sich selbst versorgenden Bauernwirtschaft erforderlich (die durchaus auch ökologisch sein kann). Wir erfahren, daß ein Mann, Holm, hier für den Garten verantwortlich ist. Er verkauft auch auf dem Markt gelegentlich ein paar Produkte des Gartens, der ansonsten vorrangig der Eigenversorgung dient.

Es ist eine geradezu zwangshafte Gewohnheit ehemals Staatsnaher aus dem Osten, jedenfalls war und ist es bei Ines und mir so, daß sie sich bei allen möglichen Projekten – wenn auch hier bloß als Gedankenspiel – für das Ganze mit verantwortlich fühlen. Jedenfalls schlägt uns das, was wir bisher gesehen haben, eher auf die Seele. Alles ruft hier nach arbeitssamen Händen. Doch wo anfangen, wenn doch nur eines sicher ist: Es ist viel zu viel zu tun, um all das auch nur mittelfristig mit Spaß und nicht als ermüdende Schinderei betreiben zu können. Wir können und wollen unsere Erfahrungen nicht abschalten. Wir wissen, welche durch den Arbeitsdrill von Generationen entwickelten Gewohnheiten, welche Selbstdisziplin oder/und welche äußeren Antriebe, auch "sozialistische" Ideologien und andere Religionen und eben auch Hierarchien erforderlich sind (bzw. in der Vergangenheit unverzichtbar waren), um Berge von Arbeit zu beherrschen. Wenn dies bis auf wenige kurzfristige Ausnahmen immer so war, sind wir doch irgendwie auch hoffnungsvoll, daß dies nicht immer so bleiben muß. Uns geht es gerade um die Erkenntnis der Bedingungen, unter der ein anderes, als das bürgerlich-kapitalistsiches Leben und Arbeiten möglich ist. Doch – auch wenn, wie wir später betrübt feststellten, unsere Erfahrungen, unsere tiefergehenden Fragen von eigentlich ebenfalls Suchenden als angebliche opportunistische und demotivierende Anerkennung des heute Dominierenden brüsk zurückgewiesen werden – wir werden nie wieder, bloß weil die Absicht einer Sache uns sehr zusagt, unsere Zweifel zugunsten eines oberflächlichen demonstrativen Optimismus zurückstellen. Unsere Geschichte, und das haben wir den Westdeutschen, auch den Linken, voraus, erklärt, warum wir geradezu dazu verpflichtet sind. Wir wissen eben auch, wie Leute reagieren, wenn sie, manche eigentlich wider besseres Wissen, von der irrigen Annahme ausgehen, es gäbe Arbeiten, die fast die ganze Woche, ja das ganze Arbeitsleben, ausfüllen, die immer Spaß machen. Wir wissen auf Staats- wie auf Kollektiv- und privater Ebene, was bisher regelmäßig passierte, wenn Gemeinschaftsprojekte solcher Leute zum profanen Alltag werden. Mensch kann so etwas zwar mit einiger Gelassenheit durchspielen, doch nur, wenn nicht die gesamte Existenz daran hängt. Hier aber ist das alles sehr ernst. "Mein lieber Mann," möchte ich angesichts des Umfangs der hiesigen Aufgaben ausrufen oder in Giseals Nähe besser p.c.-mäßig: "Meine lieben MännInnen, ob das gelingt?!"

Vom Garten steigen wir hinunter zum Wohnhaus. Eine schmale Asphalstraße, gesperrt für Autos, führt entlang einer langen zweigeschossigen Häuserzeile mit vier oder fünf Eingängen. Äußerlich ist auch hier alles aus solidem Buntsandstein. Das Dach wurde zum Teil bereits neu gedeckt. Den Rest werden wandernde Gesellen fertigstellen. Diese kommen in den nächsten Tagen hier zu ihrem traditionellem jährlichen Treffen zusammen. Bei diesen Gelegenheiten wird immer auch an einem gemeinnützigen Projekt gearbeitet, diesmal eben am Dach der Gastgeber, der Buchhagener Kommune.

Es gießt wieder. Heike, die Meisterin, holt uns ins Wohnhaus. Hier im Erdgeschoß ist auch das Büro der GmbH. An der Tür ein Zettel: "Vor 10.00 Uhr lautes Singen verboten." Das soll für Björn, Heikes Partner, geschrieben sein. Draußen vorm Fenster dampft das Wasser auf dem warmen Asphalt. Eine hochgewachsene Frau schreitet vorbei. Ich lasse kein Auge von ihr. Sie ist dunkelhaarig und, obwohl sehr schlank, traut man ihr so wie auch den anderen Handwerkerinnen hier ohne weiteres den souveränen Umgang mit schweren Balken zu. Die Zimmermannskleidung und die groben Arbeitsschuhe trägt sie unterm Arm. Der Regen rinnt an ihr herab wie über geschliffenen Marmor. Sie ist völlig nackt – eine Buchhagener Madonna. Heike wartet nachsichtig mit ihrer kleinen Repräsentation bis auch ich meine Aufmerksamkeit wieder den Referenzmappen des Unternehmens zuwende. Sie zeigt uns Bilder vom Bau des Dachstuhls auf dem benachbarten griechisch-orthodoxen Kloster. Wir bewundern geschwungene Holztreppen, Wartehäuschen an Bushaltestellen, sehen die zwei Meisterinnen und die Gesellen bei der Arbeit, blättern in sehr wohlwollend geschriebenen Zeitungsartikeln über die ungewöhnliche Arbeitsgemeinschaft mit ökologischem Anspruch und über deren Präsentation auf regionalen Messen. Soweit wir das einschätzen können, herrscht hier eine beruhigende Sachlichkeit. Unser Eindruck: Nicht gekünstelte Schöngeister bzw. arrogante Ignoranten, deren Scheitern absehbar ist, sind am Werk. Hier kommt allerdings auch nicht gerade der von uns einst besungene siegreiche "gemessene Schritt der eisernen Batallione des Proletariats" zur Geltung. Solches Selbstverständnis bzw. gesuchte oder aufgedrängte höhere Weihen sind den Buchhagenern fremd. Es gibt keinen Anlaß zu Hoheliedern auf irgendwelche historische Missionen, auf "den Adel an Menschlichkeit" etwa, den einst der junge Marx, die Pariser Handwerkerkommunen vor Augen, bejubelte. Hier wird sich nicht die Weltgeschichte auf die allerdings kräftigen Schultern geladen. Nichts erinnert an vergangene, durchaus geschichtsmächtige Züge von Menschen, die endlos aus Nächtlichem quollen, nichts an deren Avantgarden, nichts aber auch an jüngere großmäulige studentische Kurzatmigkeit. Hier ist schlicht jugendliche Leichtigkeit und Können dabei, sich existenzsichernden und die eigene Persönlichkeit bestätigenden Aufgaben zu stellen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es scheint voranzugehen. Für ihre Handwerkerarbeit zahlen sich die Angestellten der GmbH unterschiedslos 2.000 DM monatlich aus. Dieses Geld wird dann gleich in den Wohnverein eingebracht. Aus diesem Fonds und einigen weiteren Einnahmen (etwa die Rente einer hier lebenden Oma) müssen das Wohnhaus saniert und unterhalten und die Lebenshaltung aller hier Wohnenden finanziert werden. Jeder kann sich nach eigenen Ermessen aus diesen gemeinschaftlichen Mitteln auch individuelle Wünsche erfüllen, Kleidung usw. kaufen. Bei größeren Ausgaben ist allerdings die Zustimmung der Gemeinschaft erforderlich. (So jedenfalls haben wir das Buchhagener Modell verstanden.)

Heike ist mittelgroß, 34 Jahre alt. Sie wollte nicht in die Fußstapfen ihrer Mutter, der Soziologin Gisela, treten. Zur deren Freude erlernte sie das Tischlerhandwerk, war zwei Jahre auf Wanderschaft und ist nun, nach einer entsprechenden weiteren Ausbildung hier eine von zwei Meisterinnen. Eine interessante Frau. Sie hat kein Kind und will wohl auch keins haben. Sie stellt uns die Projekte mit ruhiger verbindlicher Stimme vor. An ihr ist nichts von äußerlicher Autorität, keine Eitelkeit, keine Euphorie. Sie, wie die anderen Fachfrauen und -männer tun vermutlich ohne unfruchtbaren Reflexionen über Bock oder Nicht-Bock, die sonst in der Generation unserer Kinder verbreitet ist, das, was eben zu tun ist, und sie lassen mit gleicher Gelassenheit liegen, wovon mittelfristig die Existenz nicht abhängt.

Nach einer Woche hat uns Heike völlig eingenommen. Uns erscheint sie als die personifizierte ausgleichende Beharrlichkeit. An sie kann mensch sich gut anlehnen. Die berechtigterweise stolze Gisela führt diese Fähigkeiten immer wieder und sehr direkt auf Heikes Zeit in ihrer früheren Westberliner Wohngemeinschaft zurück. Dies war einer der Versuche von 68ern, bereits in der kapitalistischen Welt das gute, einfache, das – wie damals angenommen wurde – richtige Leben zu leben. Das interessiert uns sehr und doch befremdet uns das beständige Hervorheben von Heikes alternativer Kindheit und Giselas missionarisch-propagandistische Sicht auf die Buchhagener Kommune. In den nächsten Tagen versuchen Ines und ich, selbst noch unsicher zu formulieren, was uns aus unserer Erfahrung heraus daran nicht behagt. Es gegenüber unserer Freundin auszudrücken, schlägt völlig fehl. Nur vorerst, so hoffen wir, denn wir können und wollen die eigene Geschichte nicht begraben. Uns ist wohl bekannt, wie gerade durch die gute Absicht, etwas als positiv Eingeschätztes besonders hervorzuheben, Erkenntnisbarrieren gegenüber tatsächlichen Problemen aufgebaut werden. Obwohl unsere Gastgeberin das gewiß nicht will, gewinnen wir so den Eindruck, daß uns die sehr lebensvollen, d.h. widersprüchlichen Leute aus der Kommune mehr als Charaktermasken vorgeführt werden. Es kommt zwischen Gisela und uns auch noch zum unfruchtbaren Streit, der zugunsten von Sprachlosigkeit über diese Themen abgebrochen wird.

Doch jetzt drängt’s uns erst einmal nach draußen. Entlang des Reihenhauses kommen wir über den regennassen Asphalt zu einem langen Tisch. Hier ist der Eßplatz eingerichtet. Darüber große Planen. Gisela begrüßt ihre Bekannten. Wir wissen nicht wer wer ist, erfahren erst später, hier sind einige Leute auch nur Zaungäste. So sitzen wir halt da und betrachten das Treiben. Ein Zwillingspärchen, dem Babyalter noch nicht lange entwachsen, patscht nackend durch die warmen Pfützen. Eine Frau, vielleicht die Mutter, verteilt ihnen ganze Bananen. Wie absehbar werden sie zermatscht und weggeworfen. Der große schwarze Kommunehund leckt daran herum, will sie aber auch nicht. Eine Frau im Rollstuhl mit weißem schütteren Haar kommt heran. Sie beginnt, dicke Bohnen aus Schoten zu puhlen. Sie hat eine riesige Kiste vor sich, eigene Ernte. Mir gibt sie einige kleine Früchte. Sie schmecken auch roh. Wie wir am nächsten Tag erfahren, wird die Oma nicht fertig. Es habe auch kein Mensch mitgeholfen.

Neben mich setzt sich eine junge drahtige Frau, blond, jede Menge Sommersprossen im Gesicht. Auf der bloßen linken Schulter trägt sie eine bei einem bestimmten Typ von Mädchen (ich kenne sie aus ABM-Jugendprojekten) offenkundig obligatorische farbenfrohe Tätowierung. Sie kommt aus Frankfurt/Main. Nein, sie sei keine Handwerkerin, erfahre ich, sondern noch Schülerin (ist sie nicht schon lange aus dem Alter raus?). Sie sei eine Weile hier und malere im Wohnhaus mit. Wer mitarbeitet, kann eine gewisse Zeit bleiben. "Ist doch besser als das öde Frankfurt." Ich finde dagegen Frankfurt interessant. "Nee, Berlin, ehj, das ist irre. Letzte Woche zur Love Parade, 18 Stunden auf der Autobahn. Das mußt du dir mal vorstellen. Alles stand. Voll irre. "Fritz Radio" voll an, raus aus der Karre und los gings. Irre. Dann durch Berlin. Ein mieser Stadtplan. Nichts zu finden. Über die Kreuzung voll bei Rot. Die Bullen genau daneben. Na was denn, wenn dir kein Schwein sagen kann, wo’s langgeht? ..." Die Frankfurterin geht wieder ins Haus, alten Putz abschlagen, Tapeten abreißen. Am nächsten Tag sehe ich sie wieder, mit Mundschutz und völlig verstaubt. Später erfahre ich: Sarahli, so wird das zutrauliche Mädchen gerufen, das für meine Fotografiererei posiert und die bald in die Schule kommt, ist ihre Tochter. Die flotte Mutter hat selbige nie richtig beendet, will jetzt aber ernsthaft einen Realschulabschluß erreichen, um dann einen Beruf zu erlernen. Mit 26? Na ja. Auch deshalb müsse sie wieder zurück nach Frankfurt. Ansonsten sei es hier voll gut, sagt sie.

Die Sarah-Mutter wiederum ist die Tochter einer arbeitslosen, ziemlich verlebt aussehenden Kellnerin in meinem Alter. Der höre ich gern zu. Zeitweilig hat sie auch in der Kommune gekocht. Das erzählt sie mir, schon leicht beschwipst, am sonnabendlichen Sommerfest. Die unendlich langen Plenen wären ihr auf den Geist gegangen. Ihr sei z. B. vorgeworfen worden, mit ihrem Speiseplan die Männer bevorzugt zu haben. Dabei habe sie nur freitags, als immer einige Männer von Montage kamen, – "da gibt’s doch nicht das, was sie brauchen" – ordentlich Fleisch gekocht. "Das war bei meinem Vater auch schon so. Ist doch normal. Oder?" Hier in der Gegend eine Kneipe zu unterhalten, sei auch nicht gelungen. Auch aus der erhofften Anstellung bei der Post wurde nichts. So gehe sie erst mal wieder nach Frankfurt. Aber schön sei es hier, meint auch die Sarah-Großmutter.

Außer mit der "Schülerin" aus Frankfurt kommen wir am ersten Tag am Eßplatz nicht groß ins Gespräch. Wir haben auch erstmal noch genug zu sehen. Auf dem Tisch stehen alles mögliche Geschirr, Speisereste und Kerzen. Ein großer Gas-Kocher, der zusätzlich zum Küchenherd drinnen hier vorm Haus betrieben wurde, wird gerade vor einem erneuten Regenguß in die Küche gerettet. 25 Leute sind heute zu verpflegen. Es gibt das, was sogar mir als "Koch" einfallen würde: Spaghetti mit Geschmack. Der Schöpfer des heutigen Menues zeigt uns die Küche. Auch für die 15 Leute (darunter vier Kinder), die beständig hier leben, ist sie eigentlich zu klein. Irgendwie muß es aber so gehen. Am frühen Abend gibt es täglich für alle ein warmes Essen. Der jeweilige Koch bzw. die Köchin, es geht reihum, ist auch dafür verantwortlich, daß alle Zutaten da sind. Für eine Grundausstattung der Küche mit Kartoffeln, Gemüse usw. sorgt allerdings Holm, der Gärtner. So ist also die Küchenordnung, wenn ich das richtig verstanden habe.

Wieder sind wir draußen und sehen gerade ein ca. 12-jähriges Mädchen mit einem riesigen Regenschirm kommen. Im Unterschied zu fast allen anderen Leuten, die wir hier erleben, ist sie etwas pummelig. Von hinten kommt ein größerer Junge und entreißt ihr den Schirm mit Gewalt. Voller Tränen schlägt sie sofort mit Fäusten auf ihn ein. Eine Frau kommt hinzu und vertreibt den Übeltäter. Das Mädchen, tief beleidigt, zieht wortlos weiter.

Ich hätte gern eine Wohnung von innen gesehen, will aber nicht aufdringlich sein. Am Plenum, selbst wenn wir uns zu nichts äußerten, dürften wir auch nicht teilnehmen, meint jedenfalls Gisela. Später sind Björn und Heike erstaunt, daß eine solche Einschränkung vermutet und von uns auch hingenommen wurde, doch da hatte es sich während unserer Zeit in Breitenkamp schon ausgeplenert.

Es regnet nicht mehr, wir sitzen noch beschaulich unter der Plane. Da kommt eine ziemlich große dünne Frau, ein südlicher Typ mit sehr roten Lippen. Sie erscheint mir nicht besonders fröhlich und etwas verschlossen. In ihrem Kinderwagen sitzen zwei quirlige Jungen, der kleinere etwa ein Jahr, der andere vielleicht drei. Sarah will sich ihr anschließen. Die Frau lehnt ab. Sie wolle irgendwohin, müsse schnell laufen und könne nicht mit Sarah rumtrödeln. Gerade mit dieser Frau hätte ich gern geredet. Tage später beim Kommunefest halte ich ihren jüngeren Springinsfeld davon ab, von einem großen Anhänger, auf dem er herumturnt, zu stürzen. Die Mutter kümmert sich derweil um ihren zweiten Sohn, der dem gewaltigen Grillfeuer zu nahe kommt. Nebenher erzählt sie mir von sich. Sie ist alleinerziehend, auch Tischlerin, hat gerade eine Weile in Frankreich gelebt. Dort konnte sie nicht mehr bleiben. Nun weiß sie nicht, was wird, muß aber dringend klären, wie und wovon sie leben will. Die Kommune wäre eine Variante. Sie spricht nicht darüber, warum sie sich nicht eindeutig dafür entscheidet (oder was die Buchhagener selbst gegen ihre Mitgliedschaft einzuwenden haben). Obwohl angesichts ihrer Kinder einiges auf der Hand liegt, interessiert es mich doch sehr, welche Möglichkeiten sie woanders überhaupt noch sieht, und vor allem welche Bedingungen für Leben und Arbeiten sie selbst stellt. Ich frage aber Betroffene immer weniger direkt nach solchen Dingen. Dies nicht nur aus der Erfahrung heraus, daß in Gesprächen, die eine kritische Existenz und das eigene Wesen berühren, meist ohnehin nur oberflächliche Auskünfte gegeben werden können. Seitdem ich kein klares real-"sozialistisches" oder schärfer noch "berufsrevolutionäres" Schema der Wertung von Antworten mehr habe, selbst ein Suchender bin, widerstrebt es mir geradezu, Menschen zu entsprechenden Erklärungen zu nötigen. Ich finde es auch völlig gerechtfertigt, wenn entsprechende Frager mit nichtssagenden Sprüchen abgefrühstückt werden. Wenn ich wirklich etwas von dieser seltsamen Frau erfahren wollte (und dabei auch sehr Wesentliches über die Kommune), müßte ich mich wirklich auf sie und auf ihre Kinder einlassen. Was wäre, so geht es mir durch den Kopf, wenn ich sie einlade, mit nach Berlin zu kommen und eine Weile in der Uhle zu wohnen bis sie vielleicht im Osten Alternativen zu Buchhagen findet? Die beiden quicklebendigen Jungs könnte ich ja auch manchmal behalten. ... Doch will ich das überhaupt und vor allem könnten die Uhle-Gemeinschaft und ich selbst das denn wirklich durchhalten? Kaum. Das wissend, würde ich in einem ernsthaft erscheinenden Gespräch ihre offenkundigen Sorgen doch nur als Material für Gedankenspiele mit ihr nutzen.

Auch dies ist ein Ergebnis des Sinnierens von Ines und mir über unsere Osterfahrungen: Menschen, die sich als Wohltäter sehen und betätigen, sind uns heute eher verdächtig. So wie sich einst unsere berühmten Avantgarden zum Wohle des Volkes gottgleich über "unsere Menschen" erhoben, befestigen Gutmenschen mit ihrem echten oder eingebildeten hohen Einsatz häufig Abhängigkeiten und Unselbständigkeiten anderer Leute. Ob sie es wollen oder nicht, sie reproduzieren damit Herrschaftsverhältnisse. Das ist zumindest dann der Fall, wenn das Heft des Handelns, das heißt die Verfügung über die Ressourcen, nicht wirklich an die Betroffenen übergeht. Der damit verbundene eigene Genuß an Aufopferung und angeblich edler Gesinnung ist uns ein Greuel geworden. Dabei war ich einst selbst kräftig dabei (und habe es manchmal auch genossen) zum geglaubten Wohle aller, einzelne Menschen "in den Griff zu bekommen". Keine Zeit, keine Mühe war mir zu groß, sie mit ganzer Seele an das große Ganze zu binden. Ich war in dieser Haltung nicht zu erschüttern. Ich schätzte nicht nur die allgemein anerkannten Vorzüge unserer östlichen Gesellschaft gegenüber der westlichen Alternative hoch ein. Ich war mir auch der weniger anziehenden Existenzbedingung unseres Ladens bewußt und das in einem solchem Maße, daß ich es auch als völlig gerechtfertigt ansah, mich selbst in den Griff etwa eines von mir als vorbildlich empfundenen oder mir einfach vorgesetzten Menschen zu begeben oder/und eben in die Zwänge eines angeblich immer klügeren Kollektivs. Heute ist es mir bereits unerträglich, etwa diese Frau mit ihren Kindern zum Studienobjekt zu degradieren. Dabei bin ich fern jedes Moralisierens. Ich kann weder früheres noch heutiges Verhalten als Schuld bzw. Sühne bezeichnen. Ich habe lediglich erkannt, daß solche praktisch überhebenden bzw. theoretisch betrachtenden Methoden letztlich nur bürgerliche Projekte sind, durch die keine Wege zur allgemeinen Emanzipation gefunden werden können. Diesen Weg, auf dem der Osten noch nicht war, halte ich heute allerdings nicht nur für notwendig, sondern auch historisch erstmalig für tatsächlich gangbar.

Zurück zur "Französin". Ich sehe ihr die Geburten und die stillende Mutter an. Obwohl noch ziemlich jung, könnte sie in wenigen Jahren schon ziemlich verhärmt und verbittert aussehen und sein. Sie könnte aber auch eine derjenigen Frauen werden, die mit jeder Belastung und mit dem Verlust der mädchenhaften Züge nur gewinnen. Ob sie eine solche wirkliche Schönheit wird, hängt auch, aber eben nicht hauptsächlich von ihr ab. Vielleicht unterstelle ich ihr auch viel mehr Kummer im Umgang mit ihrer ernsten Stiuation als sie wirklich empfindet (oder sich selbst gestattet). Auch wenn sie noch lange nicht reagierte, als ich bereits glaubte (und es genoß), ihren Sohn vorm Sturz bewahren zu müssen, sie schafft es doch, und zwar mit den bescheidensten materiellen Mitteln, alltäglich für ihre Kinder zu sorgen. Es scheint sogar so, daß diese Frau – immerhin will sie wenigstens noch eine weitere Existenzmöglichkeit prüfen – trotz kritischer Situation nicht einfach nach jedem Strohhalm greift. Von einem offenkundig belastenden Lebensalltag bereits gezeichnet, besteht sie verbissen-stolz zugleich nachdrücklich nicht nur auf den Lebensansprüchen ihrer Kinder, sondern auch, was nun wirklich nicht das Gleiche ist, auf den eigenen. Wirklichkeiten, die auch und gerade solche belasteten Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Geschick selbst dauerhaft zu beherrschen, und solche Assoziationen, die niemanden in die Situation des Wohltäters erheben und keinen Menschen in die einer erniedrigenden Dankbarkeit bringen, das wären die menschlichen Welten. Am Sonnabend gegen Mitternacht, ihre Kinder hat sie irgendwie zur Ruhe gebracht, tanzt die hochaufgeschossene Frau mit den roten Lippen dann scheinbar allein und völlig selbstvergessen (hier eine offenkundig verbindliche Mode). Sie bewegt sich unnahbarer und eckiger als die anderen Tänzerinnen und doch, jedenfalls sehe ich das so, geht von ihr Schönheit, Kraft und Lebendigkeit aus, und zwar auf eine ganz andere Weise als von jener Frau, die nackt durch den Regen schreitet, sich der anziehenden Wirkung ihrer Riefenstahl-Ästhetik offensichtlich bewußt. Ganz anderen Zwängen unterworfen, damit viel verwundbarer, ist die "Französin" viel eher eine Herausforderung als die marmorne Brundhild, die der Siegfried-Sage entstiegen sein könnte.

Wer kann die wirkliche Madonna von Buchhagen werden? Die Mutter wohl nicht. Warum? Frage nur danach, ob sich die Kommune denn überhaupt auf weitere Frauen oder Männer mit Kindern einlassen kann (zumindest in den kritischen Gründerjahren). Frage, warum Heike und Björn sich keine Kinder leisten. Mehr als arbeiten können die Leute nicht und das tun sie schon. Die Frage ist brutal gestellt, aber sie steht so. Wir bekommen auch irgendwo am Rande mit, daß eine bestimmte Frau (welche ist es?) mit einem oder zwei Kindern nicht gern gesehen wird. Sie habe sich mit ihren persönlichen Dingen bereits voll ausgelastet gefühlt. Auch in den Zeiten, in denen sie von Kindern nicht in Anspruch genommen wurde, habe sie nichts oder zuwenig getan. Es müsse aber selbstverständlich sein, daß sich alle Mitglieder der Kommune voll auf die Anforderungen einstellen, vor denen die ganze Gemeinschaft nun einmal steht. Das stimmt. Es stimmt aber eben auch, daß ein alleinstehender Mensch mit kleinen Kindern kaum die Kraft aufbringen kann, in den "kinderfreien" Zeiten, so wie hier tatsächlich erforderlich, intensiv zu arbeiten. Die kollektive "Lösung", die sich aufdrängt und an die Gisela fest glaubt: Die Kinderbetreuung – ähnlich wie andere Dienste – ist in der Kommune so zu organisieren, daß auch Mütter und Väter voll einsatzfähig sind. Demokratische Auseinandersetzung, in der die Zwänge und die Lösungsvarianten offen zur Sprache kommen und im Konsens verbindlich formuliert werden, also kollektive Erziehungsmethoden sollen helfen, die notwendige Disziplin und Einsatzbereitschaft zu entwickeln. So die Logik, die für jede Anforderung, für jeden Konflikt eine rationale Lösung anbietet und die sich in sachlichen Diskussionen auch durchsetzen kann.

Diese Variante haben Ines und besonderes ich einst in Schule, Studium, Beruf und eben auch in unserer Familie durchexerziert. Ich stehe auch in diesem Sinne zur real-"sozialistischen" kollektiven Rationalität, daß in solchen Lösungen auf einer ganz bestimmten, d.h. beschränkten ökonomischen Grundlage tatsächlich auch ein zivilisatorischer Fortschritt liegen kann. Es ist dagegen eine von interessierten Seiten geförderte Unverschämtheit bzw. Dummheit, dies von vornherein als ein Verbrechen anzusehen. Noch viel fragwürdiger als das frühere bewußte Bekenntnis des Ostens zu seinen eigenen beschränkten Möglichkeiten und Zwängen erscheint mir der verbreitete bundesdeutsche Hang, gerade die materiell Schwächsten auf niedrigste Standards festzulegen und zwar staatlich reguliert, also auch national-kollektiv, dies dann aber dem nicht anklagbaren anonymen Zwang des Marktes oder gar der angeblichen Faulheit der Betroffenen zuzurechnen, also den Schein der Freiheit wahren.

Ich erlaube mir noch weitere Abschweifungen, die aber durchaus mit unseren Hoffnungen und Bedenken in Bezug auf solche Projekte wie das Buchhagener zu tun haben. Entschieden zugespitzter, als wir selbst unsere bewußte Einordnung ins frühere "große Ganze" erlebten, ist die Problematik in Gladkows Zement beschrieben, gerade in der Geschichte von der Streiterin für die Frauenbefreiung Dascha und deren Tochter. (Nebenbei: Gegenüber Daschas Einsatz ist heutiger modischer Feminismus in den Metropolen ein Spielerchen.) Das Kind siechte dahin, während die Revolution von den Glebs, den Vätern, und den "hartherzigen" Daschas zum Sieg und zum ökonomischen Überleben geführt wurde. Dies alles wurde bezahlt mit barbarischen Verlusten an Menschlichkeit. In unserer Zeit dagegen bestand der Preis zur Arbeit zum Wohle aller (so das Selbstverständnis einstiger DDR-Patrioten) schon lange nicht mehr im Dahinsiechen der eigenen Kindern. Das angenommene höhere Ziel vor Augen konnten wir das Durchrationalisieren der ganzen Gesellschaft bis hinein in die eigenen Familien mit ungleich mehr Menschlichkeit verbinden und an all dem Spaß haben. Gerade wegen dieser menschlichen Möglichkeit, die Generationen zuvor noch nicht bestanden, habe ich uns immer auch in der Schuld all der früheren Daschas stehend gesehen. Sie, die Freundlichkeit wollten, konnten wahrlich nicht freundlich sein, auch nicht zu sich selbst. In revolutionärer Romantik habe ich sie geradezu um ihren historischen Standort in einem Land beneidet, das noch Helden brauchte. Zugleich war ich – nicht nur als Vater – heilfroh, daß ich gar keine Chance zu solch heldenhafter Bewährung bekam. (Und in den Wendezeiten war es dann ein wirkliches Glück, daß nicht ein einziger Mensch Held spielte. Allein das beweist, daß unsere Form von Fortschritt schon längst völlig ausgeschöpft war.)

Warum erinnere ich an die Tragik Daschas im frühen Sowjetrußlands? Weil sie genau diese barbarische Dialektik zwischen Mittel und Zweck deutlich macht, die wir selbst in den besten Zeiten der DDR am eigenen Leben durch die bewußte der Einordnung des einzelnen Individuums ins Kollektiv, durch die Unterordnung persönlicher Interessen unter die gesellschaftlichen erfuhren und selbst betrieben. (Das Bekenntnis zu dieser Form geschichtlicher Entwicklung ist genausowenig oder genausoviel anzuklagen, als wenn sich Notwendigkeiten etwa durch den westlichen stummen Zwang der Ökonomie gegenüber dem vereinzelten Einzelnen durchsetzten und dies weiter tun.) Jedenfalls kennen wir diesen barbarischen Zug der eigenen Geschichte zu gut, als daß wir über den so erreichbaren partiellen Fortschritt die damit verbundenen ernsten Probleme ignorieren könnten. Auch die der Wende folgende kapitalistisch-neoliberale Vernichtung nicht nur mancher östlichen Errungenschaft sondern auch der westlichen (auch widersprüchlichen) Zivilisationsformen, etwa die der einigermaßen funktionierenden sozialen Netze, läßt uns dies nicht vergessen. Wir können die Art und Weise der kollektiven Erziehung, nach denen der Osten lange funktionierte, allenfalls als eine vorübergehende, regional beschränkte Notlösung akzeptieren (vielleicht auch über einige wenige Jahre etwa in der Buchhagener Kommune), nicht aber als ein gesellschaftliches Prinzip. Was 1917 oder 1945ff für den Osten einen Fortschritt eröffnete, einen sehr widersprüchlichen, das konnte bereits in früheren Zeiten für Westeuropa kein Ideal mehr sein. Und das ist es heute gleich gar nicht mehr.

Wir versuchen mit Gisela in diesem Sinne über unsere solche Osterfahrungen zu reden, die uns für die Suche nach Alternativen zur westlich-kapitalistischen Arbeits- und Lebensweise wichtig erscheinen. Sie tut das u. a. mit der Bemerkung ab, daß sie sich ja nie in Parteizwänge eingebunden habe. Das soll wohl heißen, daß sie sich gar nicht so wie wir erst von ideologischen Blockaden lösen mußte. "Sie denkt, damit ist sie fein raus", meint Ines, die sich wie ich abgebürstet vorkommt. Ich: "Ja, sie stellt sich, ohne es zu merken, auf die Siegerseite. Was wir erfahren haben und nun durchdenken, hat ihr nichts zu sagen, glaubt sie. Sie nimmt an, daß sie von all dem, wovon wir berichten, bloß bestätigt werden kann. Das ist für sie bloß langweilig." Es ist wohl so: Für viele westdeutsche Linke, gerade für DDR-kritische, hat sich ja eigentlich in ihrer Lebensweise auch nichts wesentliches geändert. Sie haben an die Geschichte keine grundsätzlich neuen Fragen, weder an die vergangene östliche, noch an die eigene. Wir dagegen haben mit unserem ganzen Leben eine Menschheitshoffnung sowie Jahrhundertzusammenbruch zu verantworten und zu verarbeiten. Die nicht dem ML bzw. den kommunistischen Parteien verpflichteten Westlinken fühlen sich nun darin bestätigt, wovon sie sowieso schon überzeugt waren: Der Osten ist nur ein Irrtum der Geschichte, ein Resultat falscher Theorien, unfähiger oder verbrecherischer Führer usw. usf. Was gibt es da groß nachzudenken? Das ist die Logik einer völligen Verständnislosigkeit. Uns – zumindest insofern wir einen ernsthaften emanzipatorischen Anspruch haben – ist eine solche Ignoranz gar nicht möglich. Wir haben die innere Logik des Systems gelebt. Sein Zusammenbruch war (oder erschien, wie wir jetzt merken) zugleich der Zusammenbruch bzw. das In-Frage-Stellen unseres gesamten theoretischen Selbstverständnisses und auch unserer Mentalitäten, die den Osten trugen. Indem wir den erlebten inneren Zusammenhang des Ostens neu untersuchen, nämlich unter dem Gesichtspunkt, inwiefern die eigene Geschichte, die Mentalitäten, die Theorien usw. Anhaltspunkte für einen Ausweg aus den westlichen Strukturen bieten oder eben gerade nicht, gewinnen wir eine neue Sicht auf den Westen. Das Überraschende: Nicht nur beide Systeme sind sich in den Grundstrukturen und den Mentalitäten (immer unter dem Blick einer Überwindung des Kapitalismus) ziemlich ähnlich. Eine wirklich alternative Lebens- und Arbeitsweise kann nur in der praktischen und theoretischen Kritik beider Systeme gefunden werden. Darum können auch Westlinke mit theoretischen Fähigkeiten mit dem, was wir dazu beitragen, kaum etwas anfangen. Einmal haben wir noch nicht das theoretische Niveau erreicht, daß unsere Argumentationen wirklich zwingend sind. Zum anderen besteht der Witz aber eben darin, daß auch und gerade Westlinke, die mit der DDR nichts am Hut zu haben glaubten, weil sie zum Beispiel nicht in einer KP waren, ihre Hoffnung, auch ihre theoretische Arbeit immer wieder an Projekte hängen, die wir schon als Vergangenheit durchlebt und durchdacht haben. Jeder Mensch wehrt sich – zu Recht – mit aller Kraft dagegen, wenn sein Lebenswerk, seine tiefsten Hoffnungen in Frage gestellt werden. Dazu bereit zu sein, dazu bedarf es offenkundig eines Schockes, den für uns die Wende auslöste.

Gegen die Offenheit gegenüber Osterfahrungen spricht zum Beispiel für die (bürgerlich-) demokratische Linke auch folgende Annahme: Die DDR bekannte sich dazu, tatsächliche oder angenommene Existenznotwendigkeiten der "sozialistischen" Gesellschaft auch mit diktatorischen Mitteln durchzusetzen. Nun wurde und wird von DDR-kritischen Linken geglaubt, daß es doch etwas ganz anderes sei, wenn die Existenznotwendigkeiten etwa einer kleinen Kommune oder auch ganzer Gesellschaften auf radikaldemokratische Weise in offener Diskussion herausgefunden und entsprechende Entscheidungen über die Arbeit und die sozialen Beziehungen im Konsens getroffen werden, als wenn der "sozialistische" Leiter bzw. das Politbüro festlegt, worin die gesellschaftlichen Interessen bestehen und wie mensch denen gerecht zu werden hat. Abgesehen davon, daß auch hier das Bild der Sieger über den Osten ein extrem schwarz-weißes und nicht dazu angetan ist, irgendetwas zu begreifen. Fakt ist: Die Invividuen müssen immer den Existenzbedingungen in ihren jeweiligen Wirklichkeiten (Familie, größeres Kollektiv bis hin zur ganzen Gesellschaft) Rechnung tragen. Die Frage, wie sich diese Notwendigkeiten gegenüber dem Einzelnen durchsetzen, in welcher Variante der widersprüchlich-barbarischen Weise in allen bisherigen Klassengesellschaften dies geschah und geschieht oder in welcher Variante einer menschlichen Weise es zukünftig geschehen kann, das hängt zuallererst davon ab, welche Freiheiten in dieser Hinsicht die Ökonomie überhaupt gestattet. Zwingt sie faktisch die meisten Menschen zu fast lebenslänglicher tagfüllender Arbeit und dies auch noch in Formen, in der die unmittelbaren Produzenten überhaupt nicht selbst Dirigenten und Kontrolleure des Fertigungsprozesses sein können (so auch in buchstäblich allen entwickelten Ländern im 20. Jahrhundert), dann können sich die Notwendigkeiten der materiellen Reproduktion der jeweiligen Gesellschaften überhaupt nicht anders durchsetzen als auf barbarische Weise, also durch Herrschaft und Ausbeutung.

Dieser bis in die letzten Jahrzehnte noch unaufhebbare Zwang macht die Tatsache erst begreifbar, warum in der Vergangenheit jedes siegreiche revolutionäre Volk die vakante Macht letztlich auf der Straße liegen ließ und sich immer wieder schnell neuen Herrschern, die danach griffen, unterwarf. Wer dies als Ausdruck von Feigheit oder Dummheit, also mangelnde Aufgeklärtheit des jeweiligen Volkes interpretiert, hat nichts verstanden. Ein Volk als Ganzes kann nie dumm sein. Natürlich ist die konkrete geschichtliche Form des barbarischen Durchsetzens dieser existentiellen gesellschaftlichen Notwendigkeiten, also die jeweilige Form der Herr-Knecht-Beziehungen nicht egal. In Bezug auf die wirkliche Aufhebung dieses Zwanges zu barbarischen Formen des menschlichen Fortschrittes und zwar durch die Begründung des berühmten Reiches der Freiheit ist es jedoch ein unwesentlicher Unterschied, ob die gesellschaftlichen Existenznotwendigkeiten etwa durch die Zwänge des Marktes (einschließlich der von den riesigen internationalen Monopolen ausgehenden Zwänge) oder durch die versuchte Planmäßigkeit eines "sozialistischen" Staates zur Geltung kommen, dessen Politbüro das Land wie einen einzigen Riesenkonzen führt. Es war und ist ein großer Irrtum zu glauben, die Befreiung von der barbarischen Form des gesellschaftlichen Fortschrittes könnte sich im Konflikt zwischen Ost und West, zwischen westlichem Kapitalismus und östlichem "Sozialismus" entscheiden. Wer eine Gesellschaft im Auge hat, in der die freie Entwicklung des Einzelnen der entscheidende Maßstab für den Fortschritt des Ganzen ist, der muß sie jenseits sowohl der östlichen als auch der westliche Form des bisherigen Fortschritts suchen. Mit einer verbesserten Variante der einen oder anderen Form ist heute eine menschliche Zukunft nicht mehr zu gewinnen. Doch genau um diese geht es uns und in Bezug darauf waren bzw. sind beide Gesellschaften wesensgleich.

Ob freie Formen des Lebens und Arbeitens begründet werden können, war in der jüngeren Vergangenheit also nicht vorrangig nicht die Frage des notwendigen Willens hinreichend vieler Menschen. Diesen Willen hat es in revolutionären Zeiten schon öfter gegeben. Und in religiöser Form (darunter zähle ich heute auch die früheren kommunistischen Utopien) begleitete die Hoffnung auf ein freies Leben und Arbeiten die Menschen seit Jahrtausenden. Wenn aber in ihren Wirklichkeiten die Menschen noch nicht ein solches ökonomische Niveau erreicht haben, in der die freie Entfaltung des einzelnen Individuums, d. h. vor allem die frei verfügbare Zeit, der wirkliche Maßstab von Reichtum sein kann, wird die Formulierung und Durchsetzung von gemeinsamen Existenznotwendigkeiten gegenüber dem einzelnen Mitglied nur auf barbarische Weise erfolgen. Selbst nach einem "strahlenden Sonnenaufgang" (Hegel über die Französische Revolution) muß dann die enthusiastischste Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit schnell wieder zerfallen. Auch wenn sich unter solchen ökonomischen Bedingungen die Mitglieder einer großen Assoziation auf die demokratischste Weise verpflichten, kollektive Lösungen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu finden, sie werden nicht über die bürgerliche Gesellschaft hinauszukommen. Es wird sich bei ihnen – so wie zwischen Peking und Berlin – das rekonstruieren, was sie bekämpfen: hierarchische Beziehungen untereinander, auch die in der Kleinfamilie. Die Zwangsmaßnahmen, die das verhindern sollen und über die sich die Mitglieder einer Gemeinschaft zumindest zeitweilig durchaus im Konsens einigen können, und den weitgehendsten Willen vieler Menschen, sich freiwillig diesen Zwängen zu unterwerfen, hat der Osten in alle möglichen Varianten bis zum Extrem er- und durchlebt. Das Ergebnis: Das Bekämpfte setzt sich doch durch. Mit solchen Maßnamen, auch wenn sie ursprünglich vom Kollektiv ausgehen, wird der Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft, der des alten Materialismus (wieder Marx’ Feuerbachthesen) in keiner Weise durchbrochen, sondern nur in neuer Variante befestigt. Das gilt jedenfalls unter der Voraussetzung o. g. ökonomischer Unmöglichkeit, das Reich der Freiheit zu erringen. Wo die ökonomische Möglichkeit dazu aber besteht, bedarf es solcher Zwänge nicht mehr.

Kann diese Osterfahrung nun irgend etwas mit einer solchen Kommune zu tun haben, die erst einmal keinen anderen Annspruch hat, als mittels alternativer Formen des Lebens und Arbeitens die eigene Existenz zu sichern? Ines und ich sind da sehr vorsichtig. Darüber müßten vor allem die Kommunarden selbst diskutieren, doch die haben anderes zu tun. Was wir in der eigenen Suche nach neuen Wegen und in unserer Sicht auf etwa die Buchhagener vermeiden wollen: einen ideologisch begründeten Verzicht auf unsere Erfahrungen, eine propagandistische Glättung tatsächlicher existenzieller Probleme. Wir nehmen an, daß die angespannte ökonomische Situation solcher zunächst basisdemokratischen Gemeinschaften wie der in Buchhagen unvermeidlich zu erheblichen Konflikten im Durchsetzen von Notwendigkeiten führt. Eine Assoziation kann dies eine ziemliche Weile aushalten. Die einstigen wandernden Gesellen verfügen vielleicht auch über spezifische soziale Kompetenzen, die die Überlebenschance der Gemeinschaft erhöht. Trotzdem, der Charme des Beginnens verfliegt, die Charaktere prägen sich aus, der Zwang zur Disziplinierung wird wachsen. Und auch der vom Kollektiv formulierte Zwang bleibt ein Zwang. Das einzelne Individuum, das sich argumentativ nicht durchsetzen kann, wird früher oder später nach Alternativen suchen. Es wird gehen oder Gegenkräfte organisieren: Im Kollektiv werden Kleingruppen, Kleinfamilien (egal in welchen Geschlechterformationen) entstehen. Vor allem die Existenz von Kindern wird dies beschleunigen. Wir wissen jedenfalls, daß es unvermeidlich ist, daß Mütter und Väter (oder sonstige für ein bestimmtes Kind nur schwer auswechselbare Bezugspersonen) folgendes wünschen müssen und es auch hartnäckig fordern werden: Die Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind nach den Bedürfnisse einer kleinen Gemeinschaft mit Kind (mensch kann es Kleinfamilie oder sonstwie nennen) zu gestalten und nicht umgekehrt (wie das jetzt eher der Fall sein muß). Die Bereitschaft, genau dies nicht zu fordern und die Interessen der Gemeinschaft über die individuellen, familiären zu stellen, erschien uns früher als Ausdruck sozialistischen Bewußtseins. Partei-, FDJ- und sonstige Versammlungen, Kritik und Selbstkritik waren ursprünglich dazu da, sich über diese gesellschaftlichen Notwendigkeiten zu verständigen und sie gegenüber dem einzelnen Individuum zur Geltung zu bringen.

An der Wandzeitung im Buchhagener Wohnhaus hängt eine Einladung zum einem sogenannten sozialen Plenum. Die vorbereitend gestellten Fragen, die Aufforderung an das einzelne Mitglied etwa, seine Anforderungen an das quantiative und qualitative Verhältnis zwischen Arbeits- und Freizeit zu formulieren usw. erscheint uns sehr bekannt. Da können die individuellen Befindlichkeiten zur Sprache kommen. In offener Konfrontation mit den materiellen Existenzmöglichkeiten sind dann Lösungen zu suchen und verbindlich zu beschließen. Kurz, die Verhältnisse und das einzelne Individuum können auf diese Weise durchaus "in den Griff" bekommen werden. Im Osten funktionierte zum Teil über mehrere Generationen – bis der Laden zusammenbrach. Wenn – dies im Unterschied zum Osten – einerseits der Bereich dessen, was da zu beschließen und gegenüber den einzelnen Individuen zur Geltung zu bringen ist, auf wenige Kernpunkte beschränkt ist und die Einigungen darauf wirklich dauerhaft auf demokratische Weise möglich sind, wenn andererseits der freie autonome Bereich des Einzelnen und der Kleingruppen/-familien sowie die Freizeit und die materiellen Möglichkeiten, sie anspruchsvoll zu nutzen, dagegen groß sind, dann mag dies wirklich funktionieren. Dann müssen sich nicht notwendig wieder Herrschaftsstrukturen herausbilden. Wenn das sogar massenweise denkbar wird, dann ist eben das ökonomische Niveau erreicht, auf dem erst eine freie Gesellschaft aufbauen kann. Dieser dann mögliche Kommunismus hat bisher noch nirgends existiert.

Doch wie ist das angesichts der materiellen Belastung, denen die Buchhagener unterliegen? Unter solchen Bedingungen kollektive Lösungen anzustreben, bedeutet genau jenes zu versuchen, was wir aus dem Osten kennen. Aus unseren Erfahrungen heraus sehen wir es aber zum Beispiel als eine Illusion an, daß die Bedürfnisse etwa des heranwachsenden Kindes (das gilt auch für Erwachsene) in wenigstens befriedigender Weise von wechselnden Personen wahr genommen werden könnten, wenn nur die Arbeit inklusive der Kinderbetreuung gut organisiert wird. "Befriedigende Weise" bezieht sich dabei natürlich auf das heutige fortgeschrittenste Zivilisationsniveau und diesem Niveau dem kann sich trotz aller Mauern dauerhaft keine Gemeinschaft entziehen. Es ist auch irrig zu glauben, daß ein solch notwendig straffes Regime von heutiger (westlicher) Zivilisation aus (richtiger ist vielleicht: vom heute bei Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaftsform möglichen Niveau) einen Fortschritt bedeuten würde.

Es ist nicht möglich, daß etwa die Mutter, der Vater oder eine andere enge Bezugsperson zum Beispiel über Plenen die anderen Mitglieder einer größeren Gemeinschaft in die Situation versetzt, daß sie die Bedürfnisse eines Kindes in gleich wünschenswerter Weise überhaupt erkennen und ihnen Geltung verschaffen kann, wie eben die unmittelbare Bezugsperson selbst. Ein Kind, ein Mensch überhaupt, ist kein Arbeitsgegenstand. Der Glaube ist irrig, das Aufwachsen von Kindern (und die Entwicklung Erwachsener) kann (immer in Bezug auf die heute mögliche Zivilisation) wie ein industrieeller oder auch handwerklicher Fertigungsprozeß organisiert werden. Sicher ist das auch in Buchhagen nicht gewollt, doch angesichts der Knappheit an einsetzbaren Arbeitskräften (im Verhältnissen zur Anzahl der Kommunemitglieder und deren ökonomischen Existenzbedingungen) läuft die innere Organisation der sozialen Beziehungen genau darauf hinaus. Die uneingeschränkte materielle Gleichheit, die Tatsache, daß in den Plenen alles zur Sprache gebracht werden kann und entsprechende Beschlüsse nur im Konsens gefaßt werden, ändert nichts daran. Gerade in unserer einst sechsköpfige Familie ist bekannt, wovon bei einer solchen Durchrationalisierung, bei der Delegierung von Aufgaben auf jeweils "Diensthabende" bzw. auf bestimmte dafür vorgesehene Zeiten die Rede ist. ("Du kannst mir das heute Abend/Morgen/am Wochenende erzählen, jetzt geht es beim besten Willen nicht. ... Schluß jetzt, hör auf!") Wenn beispielsweise früher in der DDR insbesondere Intellektuelle (Mütter und Väter) die wenigen Privilegien, die sie gegenüber Arbeitern hatten, dazu nutzten, um familiär arbeitsteilig zu sichern, daß ihre Kinder nicht bereits um fünf joder sechs Uhr aus dem Bett gerissen und in Krippe oder Kindergarten gebrachten wurden, wenn sie es möglich machten, daß sie dort auch nicht bis 17, 18 Uhr verblieben, dann kann ihnen wohl niemand ernsthaft mangelnden Sinn für soziale Gleichheit vorwerfen (wie in Diskussionen geschehen). Der Hinweis auf die von diesem Zeitreglement berührten Bedürfnisse der Kinder, denen sie zum Glück häufig etwas besser als Arbeiter/innen gerecht werden konnten, wird z. B. dann damit beantwortet, daß man dann eben die allgemeine wöchentliche Arbeitszeit von 43,5 auf vielleicht 35 Stunden hätte senken müssen. So unernst, sozusagen mittels eines Backrezeptes, kommt man eben nicht aus tatsächlichen materiellen Zwängen heraus, nicht aus denen einer Familie, nicht aus der eines Staates und eben auch nicht aus denen, vor denen die Buchhagener unweigerlich stehen.

Nachdem sich Ines jedenfalls das Buchhagener Treiben eine Weile angesehen hatte und obwohl wir größtes Wohlwollen der Leute untereinander voraussetzen, erklärt sie als Resüme: "Die Vorstellung, hier leben zu müssen, ist ein Horror." Warum? "Was hier an Regulierungen, Absprachen und Festlegeungen nötig ist, übersteigt das, was wir in unserer Familie in den angespanntesten Zeiten erlebten." Was mich betrifft, so könnte ich zwar auch an mein Leben im Internat anknüpfen, das ich seinerzeit tatsächlich genossen habe, und eben an mein (einstiges) Regulierungstalent, mit der ich eine große Familie auf die Erfüllung vieler Aufgaben und Ansprüche trainieren wollte. Es ist ein Segen, daß ich, verursacht mehr durch meine häufige Nichtanwesendheit und befördert durch den hinhaltenden Widerstand von Ines und von Verwandten dem Sinn meiner Fähigkeiten zum Durchrationalisieren der Familie zunehmend selbst mißtraute. Es ist ein Segen, daß wir vom festen Vorsatz, uns beide uneingeschränkt für den jeweiligen Beruf und politische Arbeit einzusetzen, Abstand nahmen. Ines, im Beruf etwas ruhiger tretend, zugleich aber auch promovierend, wurde zum beständigen Pol der Familie. Heute weiß ich, sie hat auf diese Weise mehr als ich solche soziale Fähigkeiten entwickelt, die mit den für eine wirklich alternative Gesellschaft erforderlichen Mentalitäten gewiß mehr zu tun hat, als meine für eine "revolutionäre" Arbeit besonders geeignete.

Wenn aber unter den gegebenen ökonomischen Existenzbedingungen der Kommune die Regulierungen bis weit in die individuellen Sphären hinein durchgreifen, dann geht das unvermeidlich zuungunsten der Entwicklung der Kinder (auch hier wieder gemessen daran, daß sie nicht wie bis noch vor wenigen Jahrzehnten für eine fordistische Fließbandarbeit erzogen, besser dressiert werden müssen). Zumindest (doch nicht nur) in Bezug auf Kinder befindet sich die buchahgener Kommune nicht in der Situation, daß das Ganze nach dem Maßstab der besten Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Individuen aus gestaltet werden kann. Das gesamte Projekt wird umgekehrt in einem starkem Maße von äußeren Anforderungen bestimmt und das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Diese Entfremdung wird nicht dadurch aufgehoben, daß diese Anforderungen in gemeinsamer Diskussion anerkannt und zu zwingenden Regeln verarbeitet werden. Dieses weitgehende Durchgreifen von durchaus Wissenden in die internen sozialen Beziehungen und das weitgehende Bekenntnis der Mitglieder der Gemeinschaft zu diesen Notwendigkeiten ähnelt Strukturen im Erziehungs-"Sozialismus".

Unter solchen ökonomischen Bedingungen enden die Versuche, die Spaltung der Gemeinschaft/Gesellschaft in Führende und Geführte, Erzieher und Zöglinge aufzuheben, wie bereits gesagt, doch wieder in einem bürgerlichen Projekt. Mensch muß eben zu Marx’ Thesen über Feuerbach, in denen er den alten Materialismus, die Spaltung der Gesellschaft in zwei Teile, von denen sich der eine über den anderen erhebt, als bürgerliches Projekt kritisiert, dessen Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie hinzudenken (die Bestimmung der ökonomischen Voraussetzungen, unter denen diese Spaltung erst aufhebbar wird). Erst wenn dies wirklich begriffen und vor allem, wenn die Gesellschaft (auch die jeweils kleinere Gemeinschaft) sich tatsächlich auf ein solches ökonomisches Niveau erhoben hat, daß die in den Grundrissen genannten ökonomischen Bedingung des Aufhebens von Herrschaft über Personen geschaffen sind, dann wird der Versuch realistisch, den Standpunkt der menschlichen Gesellschaft zu erringen. Dann kann eben die freie Entfaltung des Individuums das Maß des Fortschritts werden und die Menschen können den Kapitalismus wirklich hinter sich lassen. Was sich dagegen hier in Buchhagen abzeichnet und was den ganzen Osten charakterisierte, war bzw. ist eher ein vorbürgerlicher "Kommunismus", eher der von Th. Morus und Campanella, nicht aber der von Marx. Im gesamtgesellschaftlichen Rahmen gesehen – und ich erwarte von theoretisch engagierten Sozialisten, daß sie auch dies im Auge haben – kann das von der heutigen Bundesrepublik ausgehend kein gesellschaftliches Ziel mehr sein.

Nehmen wir damit gegen das Buchhagener Projekt Stellung? Ganz und gar nicht. Wir hinterfragen nur nach unseren Kriterien die Hoffnung, die hinter Giselas propagandistischem Artikel steht, nämlich daß dieser Kommunetyp unter den herrschenden gesellschaftlichen Umständen ein gangbarer Weg zum guten, einfachen, alternativen Leben ist. Wenn das Durchrationalisieren des Lebens der Buchhagener Kommune auf ihre besondere Weise ein gemeinschaftliches Überleben ermöglicht, können wir es nur bewundern und begrüßen. Wir können Heike, Björn, Lupo und den anderen bloß wünschen, daß sie sich auf ihre Weise in der bürgerlichen Gesellschaft behaupten. Doch gerade weil Ines und ich einen wirklichen Ausweg aus der bürgerlichen Form von sozialen Beziehungen suchen, fühlen wir uns herausgefordert, aus einer "sozialistischen" Jahrhunderterfahrung heraus den Wert und die Problematik solcher Versuche zur Sprache zu bringen. Nehmen wir also – all das bisher gesagte beachtend – die Frage an: Können solche Projekte nicht doch ein Tor in eine andere Gesellschaft aufstoßen, es wenigstens einen Spalt öffnen? Könnten viele solche Assoziationen wie die von Buchhagen, gerade wenn sie sich vernetzen, in der Wahrnehmung ihrer unmittelbaren Existenzinteressen (nicht als abstraktes politisches Projekt) es vielleicht doch schaffen, was dem östlichen "Sozialismus" nicht gelang und neue anziehende Gesellschaftlichkeiten begründen? Können sie über die Phase des vorbürgerlichen "Kommunismus" hinauskommen? Können sie, anders als der Osten, der sich letztlich nur als eine Brücke in einen normalen barbarischen Kapitalismus erwies, in eine Assoziation der Freien und Gleichen münden, die sich nicht auf dem Mangel an Kapitalismus errichtet, sondern auf dem ganzen Reichtum der bürgerlichen Epoche gründet? Wenn es in solchen Kommunen in wenigen Jahren gelänge, die notwendige Arbeitszeit (diese natürlich immer intensiv und von höchstmöglicher Rationalität gedacht) der Kommunarden drastisch zu reduzieren (was im Kapitalismus insgesamt gegenwärtig auf eine barbarische Weise, d.h. über ungewollte Arbeitslosigkeit, tatsächlich ja schon geschieht), dann kann ich mir das vorstellen. Das bedeutete zum Beispiel in Buchhagen einen solchen wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen, daß auch eine Zentralheizung für das ganze Projekt finanziert (Björn meint, dies koste ca. 200.000 DM), die Arbeitszeit zugleich auf vielleicht 35 Stunden gesenkt werden kann, 5-6 Wochen Urlaub möglich sind usw. usf. Die gewonnene Freizeit, die erweiterten materiellen Möglichkeiten und die damit freigesetzten vielfältigen Bedürfnisse würden gegen die gegenwärtig notwendige Regulierungszwänge und entsprechenden Gewohnheiten rebellieren. (Genau dies geschah auch in den letzten Jahren in der DDR. In dieser konnten die neuen Bedürfnissen sich nicht ihren Raum erobern, ohne zunächst die politischen und ökonomischen Grundstrukturen, also den ganzen Staat zu zerstören). Dieser Rebellion könnten die Kommunarden dann vielleicht eine wirklich sozialistische Perspektive eröffnen, ohne um die eigene Existenz als Gemeinschaft bangen zu müssen. Die Bedingung: Die über Jahre notwendigen Zwänge, die Ein-, Unter- und Überordnungen der Individuen dürften noch nicht zu festen Herrschaftsstrukturen und Mentalitäten geronnen sein, an denen – zumal in kapitalistischer Umgebung – die Existenz des Ganzen hängt. Die Differenzierung der Gemeinschaft in verschiedene Kleingruppen/Kleinfamilien und vor allem Mitgliedschaft von Kindern (aber auch von alten Menschen) mit ihrer Inkompatibilität gegenüber einem durchrationalisierten Leben, könnten dann als Gewinn und nicht als Gefährdung der Gemeinschaft wirken.

Die Buchhagener Kommune kann gegenwärtig nicht anders existieren als in einem vorbürgerlichen "Kommunismus". Es wäre zu hoffen, daß sie den oben beschriebenen Durchbruch schafft. In überschaubarer Zeit aber kann und muß es den Kommunarden egal sein, ob sie langfristig eine solche Perspektive haben oder nicht. Jetzt ist nur zu wünschen, daß sie den Anforderungen ihrer gegenwärtigen Existenz gerecht werden. Es hat keinen Sinn, sich irgendeinem weitergehenden Ziel, für das keine Bedingungen vorhanden sind und das deshalb ein abstraktes ideologisches Konstrukt wäre, zu unterwerfen.

Für Leute wie uns jedoch, die wir bereits in einem solchen vorbürgerlichen "Sozialismus"-"Kommunismus" lebten, allerdings in einem viel differenzierteren und einen höheren materiellen Komfort bietenden, und die solche Gemeinschaften nicht als ihre Zukunft ansehen können, gibt es vielleicht eine ganz andere Chance, die etwas mit Zukunft zu tun haben könnte. Ich sehe für uns die Möglichkeit, daß sich Familien und andere Kleingruppen bei weitgehender Beibehaltung oder besser Ausweitung ihrer Autonomie, assoziieren. Abhängigkeiten, gegenseitige Verpflichtungen werden nur dort und nur insoweit eingegangen, wie sie – vom heutigen Niveau ausgehend – mit absehbarem persönlichem Gewinn an Freizeit, an Kultur, an interessanten Beziehungen, an Liebe und mit Erweiterung der materiellen Möglichkeiten (weil zum Beispiel nicht jede Familie ein oder zwei Autos unterhalten muß) für die einzelnen Mitglieder bzw. die jeweiligen Familien verbunden sind. Vielleicht kann um Rittgarten und um die Uhle herum eine solche Gemeinschaftlichkeit entstehen. Erste Schritte in diese Richtung haben sich bereits ergeben – aus dem Bedürfnis der einbezogenen Familien heraus, nicht aus einem ideologischen Programm. Die Produktion von Obst und Gemüse in Rittgarten etwa ist für keinen eine materielle Existenzbedingung, sondern – bei aller Zuverlässigkeit, die auch hier erforderlich ist – eher Spaß. Es handelt sich mehr um Selbstgenuß der Leute in einer sozusagen spielerischen Arbeit. Diese effektiv, also auch mittels Maschinen, zu betreiben, das ist ebenso wie der Drang nach Schönheit (etwa des Blumengartens) oder nach ökologische vorteilhaften weitgehend geschlossenen Stoffkreisläufen ein Element dieses Spiels. Es ist nicht so wie in Buchhagen, daß letztlich von einer Produktion von Waren her das ganze Leben durchrationalisiert werden muß, daß Frauen und Männer sich zur barbarischen Frage zwingen müssen, welche Freude etwa an Kindern und an (Ur-)Omas und -Opas sie sich überhaupt erlauben können. Hier wäre es umgekehrt. Auch wenn bei uns immer auch die Voraussetzung besteht, daß wenigstens ein Teil der Leute durch Lohnarbeit Geld heranschafft, bezogen auf Rittgarten und die inneren Familienverhältnisse könnte in einem ganz anderen Maße als in Buchhagen bereits das Leben über die Produktion herrschen. Dies ist übrigens auch eine Marxsche Definition von Kommunismus, eine im Osten einst völlig verdrängte. Hier kann alles langsam oder auch schneller wachsen, getragen von individuellen und familiären Bedürfnissen und Möglichkeiten, nichts vom äußeren Zwang zur Lohnarbeit getrieben. Auch das ist bisher mehr ein Traum, doch vielleicht ein nicht mehr unrealistischer. Die Reflexionen über die Buchhagener Kommune jedenfalls schärfen ihn, machen unsere Osterfahrungen auch für uns selbst handhabbarer.

Leider kommen wir darüber mit Gisela nicht in ein ruhiges Gespräch. Sie reagiert bereits auf unsere Frage, ob denn die Auflösung der Kleinfamilie an sich irgendeinen Wert darstellt, mit Unverständnis und Vorwürfen. Mit dieser Fragestellung würden wir faktisch Verfechter der jetzigen bundesdeutschen Verhältnisse sein, die Gewalt in vielen Familien, die Unterdrückungen von Ehefrauen durch ihre Männer, die rechtlich abgesicherte finanzielle Benachteiligung von alternativen Lebensformen gegenüber der üblichen bürgerlichen Familie ignorieren usw. Sie versteht unser Anliegen überhaupt nicht und wenn wir auf den Osten zu sprechen kommen, erklärt sie uns, was wir seinerzeit hätten alles anders machen müssen, damit zum allgemeinen Glück etwa die Kleinfamilie, eingeschlossen bestimmte Rollenverteilung (dies ist für sie abgesehen von wenigen Ausnahmen identisch mit Herrschaft der Männer über Frauen, also mit Horror) aufgehoben wird. Ich bringe die für den damaligen Osten wie auch heute für die Kommune gültige einfache Wahrheit zur Geltung – die Regeln und die Gewohnheiten des Arbeitens und Lebens können nicht höher sein als die ökonomischen Gestaltungen – und produziere nur Mißverständnisse. Das ist noch lange kein Unglück. Buchhagen hat uns jedenfalls herausgefordert. Das vorliegende Pamphlet zeigt es.

Selbst wenn wir mit allen unseren Sichten auf Buchhagen, mit den entsprechenden Überlegungen zur eigenen Geschichte und mit unseren Hoffnungen, die wir mit den eigenen weniger dramatischen Versuchen in der Familie verbinden, unrecht hätten, die Frage, die jeden Streit lohnt, bleibt uns erhalten: Wie kann eine Wirklichkeit entstehen, in der auch Menschen wie etwa die "Französin" souverän leben und arbeiten können? Irgendwann gibt es bestimmt auch wieder eine neue Runde. Die braunhäutige Frau jedenfalls wird wohl ihre zwei Kinder nehmen und weiterziehen in eine ungewisse Existenz. Auch wir verlassen Buchhagen, Breitenkamp und Giselas wunderbare Obhut. Himbeergelee, Steine und Gedanken im Gepäck rollen wir die Dorfstraße hinunter. Vom Vogler aus geht es dann entlang uns noch fremder Flüsse Richtung Westen. Wir besuchen noch alte Römerresidenzen, den nahtlosen Rock eines Mannes aus Nazareth, das Geburtshaus des geschichtsmächtigen Trierers. Auf dem Wege zurück in den Osten, wir bleiben noch eine Woche in Thüringen, können wir uns von der unglaubliche Hildegard von Bingen kaum trennen. Und das Gebraute der Möche vom Kreuzberg in der Rhön gestatten wir uns gleich zweimal. Er ist eben nicht nur denkwürdig, sondern auch sehr heiß, dieser Sommer.