Rot-grüne Katastrophen und möglicher Sozialismus

Die Unenttäuschbaren

Kurz nach der Bundestagswahl schrieb ich, der Erfolg von Rot-Grün beruhe auf Selbsttäuschung und Manipulation. Und ich setzte eine gewisse Hoffnung auf einen Fortschritt im Denken und Handeln der unvermeidlich bald Ent-Täuschten. Dafür wurde ich als bösartiger Mensch und angeblich notorischer Sozihasser gescholten. Ich bekenne, ich habe mich geirrt und zwar gleich mehrfach.

  1. Die Geschwindigkeit, mit der sich zeigte, daß die regierenden Rot-Grünen diejenigen Menschen verarschen, die hofften, daß gute Herrschende etwas für sie leisten, ist viel größer als ich annahm.
  2. Hinter dem (Medien-)Eindruck einer völligen Regierungskonfusion läuft erkennbar konsequent das eigentliche Herrschaftsstück Der schnelle Tod des Sozialstaates. Die rotzfreche offene Wurstigkeit, mit der Rot-Grün dies zelebrieren kann, übersteigt auch meine Erwartung.
  3. Nach der Kohlschen patriarchalen Behäbigkeitsnummer bedarf es nicht einmal mehr einer besonderen blairschen Schauspielkunst oder/und einiger massenwirksamer sozialer Feigenblätter. Das besondere Interesse des Es-muß-sich-rechnen wird umstandslos als das allgemein seligmachende angeboten. Macht- und Kapital-Standortsbedürfnisse greifen national und global offen durch auf die ganze Gesellschaft und die Familien. Die bisher allgemeinen Aufgaben (Gesundheitswesen, Bildung, Wissenschaft, Kultur, öffentlicher Verkehr, Infrastrukturen) werden privatisiert. Unverblümt bzw. unverlafontainert verschlankt offenbart sich der Staat als etwas, das lange vergessen schien, als der berüchtigte Marxsche geschäftsführende Ausschuß. Das Überraschende: (Fast) kein Mensch wundert sich darüber (außer denjenigen demokratischen Sozialisten, die weiter vom Exodus des real-"sozialistischen" Politmanagement auf Koma umschulen, auf altbundesdeutschen Branchen soziale Marktwirtschaft und FdGO).
  4. Auch jetzt, da die Herrschenden ihre angebliche Sorge fürs gemeine Volk in die tatsächliche für Piech & Co verkehren und die Deutschen zur Reife für Krieg Nr. 3 führen, dienen sich diese Umschüler den Herrschaftsstrukturen weiter als Scharnier an für die eigenen Anhänger. Diese versuchen nun nicht etwa – wie ich fälschlicherweise hoffte – jenseits von Parteihierarchien und Selbstbetrug selbständig linke, alternative Bewegungen für ein anderes Leben und Produzieren zustande zu bringen. Statt dessen laufen gerade Leute, die angewidert von realo-rot-grüner Beförderung einst verabscheuter Übel, genau dorthin über, wo sich das, was sie enttäuscht verließen, gerade voll entfaltet – in die rötliche PDS.

Soviel Irrtum meinerseits muß tiefere Ursachen haben.

Wo liegen die Fehler?

1. Annahme: Menschen, die sich politisch auf Medien-"Bildung" und Wahl-Demokratie beschränken, also Mehrheiten, lassen sich durch keinerlei Ent-Täuschung von ihrer Heilserwartung auf höhere Wesen, auf angeblich aufgeklärte Herrscher, von der Vorsehung ausgewählte Führer usw. abbringen. Gerade die Deutschen bewirkten damit globale Katastrophen. Doch die Bereitschaft scheint unzerbrechbar, treu auf den Vater Staat irgendeiner Couleur zu hoffen. Selbst 1918 und in der DDR 1989, die bisherigen Herren waren fast aus Versehen verjagt, hat sich die deutsche Untertanenseele sofort neuen Herren unterworfen. Aus Schrecken über die plötzliche Freiheit, selbstbewußt Verhältnisse gestalten zu können. Worauf dann ist zu hoffen, wenn keine noch so üble Erfahrung brave Bürger dazu bringt, den eigenen Verstand zu gebrauchen und keinem Menschen zu trauen, der verspricht, als Regierender Gutes für sie zu tun? Auf neue spätkapitalistische Katastrophen? Diese machen eher solche Demagogen massenhaft akzeptabel, gegen die die Schröder und Fischer noch Waisenknaben sind.

2. Annahme: Ein weiterer Teil von Menschen ist gerade aus realistischer Einsicht in die tatsächliche Funktion von Obrigkeit gar nicht ent-täuschbar. Sie empören sich logischerweise nicht über deren Verlogenheit, weil sie diese als Bedingung jeglichen Regierens begreifen. Allenfalls hofft mensch auf einen gewissem Unterhaltungswert der steuerfinanzierten Lug-und-Trug-Show, wohl wissend, daß hinter diesem Vorhang früher schon Errungenes zugunsten des Es-muß-sich-rechnen wieder verloren geht. Fern von Widerstand oder gar einer Idee vom von Ringen für ein zivilisationsverträgliches gutes Leben und Arbeiten genießt er/sie die Ästhetik des Zerfalls und geht ansonsten den eigenen Geschäften nach. Kann aus solch zynisch-pragmatischem Realismus eine zivilisierte Alternative entstehen? Kaum.

Also keinerlei Hoffnung?

Nein, wenn auf solche Politikformen und Theorien gesetzt wird, die in Ost und West im 20. Jahrhundert ihren beschränkt-zivilisatorischen Sinn hatten. Das betrifft alle Formen und Ideologien der alten sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung und des entgegenstehenden bürgerlich-kapitalistischen Blocks, also

– Ausübung staatlicher Macht über den bürgerlichen Parlamentarismus bzw. die sog. Diktatur des Proletariats,

– alle Parteistrukturen, die sich einst innerhalb bürgerlich-demokratischer oder real-"sozialistischer" Verhältnisse bewährten,

– Theorien und Ideologien wie der ML, Trotzkismus, Maoismus, der Keynesianismus und andere bürgerliche Regulierungs- und Herrschaftstheorien, die o. g. Auseinandersetzungen flankierten.

Hoffnungsvoll
Wenn aber ausgehend von den Metropolen u.a. folgende Tatsachen und Theorien in die Suche nach zukünftigen Akteuren und Formen menschlicher Emanzipation einbezogen werden, dann sieht die Sache anders aus:

  1. In Ost (1968 und 1989) und West (1968ff) hat es Bewegungen gegeben bzw. gibt es sie noch, die nicht o. g. Strukturen und Theorien zuzuordnen sind. Sie waren bzw. sind antiautoritär, radikaldemokratisch, auf Konfliktlösungen in uneingeschränkter Öffentlichkeit (etwa an Runden Tischen) orientiert auf das unmittelbare Geltendmachen von individuellen, kollektiven bzw. allgemeinmenschlichen Existenzinteressen (siehe kommunale Bürgerinitiativen bis hin zur Friedens- und Antiatomkraftbewegung). In der aufstrebenden, emanzipatorischen Phase sind solche Bewegungen jeweils nicht auf die Begründung einer neuen, sondern auf die Beschränkung oder Auflösung von Herrschaft gerichtet. Damit treten nicht eng klassenbegrenzte, sondern eher klassenungebundene Bewegungsformen hervor, in denen sich die jeweiligen assoziierten Menschen die materiellen Bedingungen ihrer Existenz unterzuordnen versuchen. Diese kurzzeitig freien und gleichen Individuen wurden bisher immer wieder durch offenen Terror und mehr noch durch stummen Zwang der (kapitalistischen) Ökonomie und herrschende Gewohnheiten in Staatshierarchien integriert. Es wachsen aber die materiellen Voraussetzungen dafür, daß solche Bewegungen dieser Transformation widerstehen und wirklich neue Gesellschaften begründen könnten.
  2. Nunmehr möglicher nachhaltiger Erfolg erfordert, daß sich solche Bewegungen in ihrem Protest gegen einzelne Erscheinungen spätkapitalistischer Zivilisationsbedrohung praktisch und theoretisch zugleich der Frage stellen, wie denn zivilisationsverträglich anders gelebt und gearbeitet werden kann. Dabei geht es nicht nur um den kleinen bornierten Bereich (um diesen natürlich auch) und ebenfalls nicht um einen Zwang zur Askese, sondern um die reiche Individualität aller an den Assoziationen Beteiligten.
  3. Wem an theoretischer Vorwegnahme solcher allgemeinmenschlicher Umwälzung der Gesellschaft gelegen ist, dem sei auch Streit mit Marx empfohlen:
    – Eine kritische Auseinandersetzung mit der sog. historischen Mission des Proletariats. Bezogen auf die Erfahrungen der westlichen Arbeiterbewegung und des Real-"Sozialismus" brachte mich das zur Auffassung: Die großen zivilisatorischen Leistungen der Arbeiterklasse liegen innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Epoche. Die traditionellen Strukturen und konkreten Ziele der Arbeiterbewegung, etwa die Diktatur des Proletariats oder das Bernsteinsche Hineinwachsen, sind ungeeignet, diesen Rahmen zu überschreiten und die allgemeinmenschliche Emanzipation zu erringen.
    – Zugleich bieten die frühen Marxschen ökonomisch-philosophischen Schriften ein ausgezeichnetes theoretisches Instrument, um die heutigen Möglichkeiten und anderen Formen zur Begründung einer neuen Gesellschaft theoretisch fassen zu können. Eine neue Auseinandersetzung mit folgenden Erkenntnissen von Marx lohnt sich:
    . Zusammenhang zwischen (knechtenden) Formen der Arbeitsteilung, Privateigentum und Entfremdung (Deutsche Ideologie, Ökonomisch-philosophische Manuskripte).
    . Bestimmung aller Formen von Theorie und Praxis als bürgerliche, die die gesellschaftlichen Veränderungen knüpfen an die Spaltung der Gesellschaft in zwei Teile, von denen der eine sich über sie erhebt (Thesen über Feuerbach). Damit das Begreifen der nur partiellen Emanzipation (im Gegensatz zur allgemeinmenschlichen) als eine im bürgerlich-kapitalistischen Rahmen verbleibende (Zur Judenfrage, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie).
    . Versus diktatorische und asketische Beschränkung des Individuums. Seine volle Freiheit zur Ausprägung seiner Individualität ist ein unverzichtbares Element jeder nachhaltigen sozialistisch-kommunistischen Bewegung (hierzu alle Frühschriften).
    – In den Kritiken der Politischen Ökonomie beschreibt Marx solche materielle Veränderungen, durch die der Produzent aus dem unmittelbaren Fertigungsprozeß heraustritt und zu dessen Kontrolleur und Dirigent wird (Grundrisse ...). Maß und Triebkraft des Reichtums sind dann nicht mehr die verausgabten Arbeitszeiten, sondern die Entfaltung der Individualität der Produzenten und ihr unmittelbar-kooperatives Zusammenwirken. Dieser antizipierte Prozeß läuft heute (allerdings in barbarischer Weise) tatsächlich ab. Aus überzeugenden Gründen kann dies als der Punkt bestimmt werden, da die kapitalistische Produktionsweise durch eine sozialistisch-kommunistische erstmalig ablösbar wird.
    – Weiter ist (gegen Lenin und den ML) die Phase, da das Kapital dem Staat massenhaft die allgemeinen Aufgaben entzieht (weil diese inzwischen profitabel lösbar), als die höchste Form des Kapitalismus, als dessen letzte zivilisierende Tendenz (Grundrisse ...) beschrieben. Meine Interpretation: Wo dies so wie heute in den Metropolen massenhaft geschieht, ist endlich derjenige Punkt erreicht, da sich emanzipatorische Bewegungen assoziierter Individuen mit den Produktionsmitteln auch diese allgemeinen Bedingungen ihrer materiellen Existenz unterordnen können. Sie müssen diese bisherigen Staatsaufgaben nicht so wie bisher in allen Revolutionen wieder der Verfügung einer sich über die Gesellschaft erhebenden Macht überlassen, also nicht wieder knechtende Arbeitsteilung, Entfremdung, Klassenspaltungen, Staatsgewalt produzieren. Von da an wird machbar, was in bisherigen Sozialismusversuchen praktisch unmöglich und theoretisch undenkbar war, aber nach Marx ein unverzichtbares Kriterium einer sozialistisch-kommunistischen Umwälzung ist: das Absterben des Staates durch den Übergang zur Selbstverwaltung durch assoziierte Individuen.
  4. Es ist eine wunderbare Situation, daß es sich lohnt darüber nachzudenken, was es eben für die Bewegungsformen bedeutet, wenn also die bürgerlich-kapitalistische Epoche tatsächlich durchbrochen werden kann, weil soziale Bewegungen nicht mehr wie 1917ff, 1945ff (ökonomisch) gezwungen sind, ihren freiheitlichen Impuls doch wieder in neuen Herrschaftsstrukturen verrotten zu lassen.

Soweit die Theorie – und die Praxis?

Meine Vorschläge für eine gemeinsame Suche nach Wegen in einen emanzipatorischen Kommunismus:

  1. Alternatives Denken und konkrete Praxen der 68er und 89er (ehe sie wieder in die bürgerlichen Machtstrukturen, politische Parteien, Parlaments- und Staatsinstitutionen integriert wurden) wieder lebendig machen. Dazu den zehnten Jahrestag der Wende nutzen.
  2. Mit aktuellen alternativen Bewegungen und Ökonomien vertraut machen. Hier hat sich Theorie zu bewähren.
  3. Mit Prozessen in den Kernbereichen von lean-production, den sozialen und sozial-psychologischen Konsequenzen dessen vertraut machen. Dies alles unter folgenden Gesichtspunkten:
    – Sind darin Elemente erkennbar oder gar Bewegungen, die zur Begründung neuer emanzipatorischer, die Kapitalverhältnisse aufhebender Formen des Lebens und Arbeitens führen könnten?
    – Sind Verbindungen zwischen diesen ökonomischen Prozessen und außerökonomischen emanzipatorischen Bewegungen erkenn- bzw. herstellbar? Entsprechende französische u.a. ausländischen Erfahrungen diskutieren.
  4. Mit Kulturformen derjenigen sozialen Gruppen beschäftigen, die durch die Auflösung der fordistischen Produktionsformen aus ihrem bisherigen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten herausgeschleudert werden. Prüfen, welche emanzipatorischen Potenzen in diesen Kreisen erwachsen.
  5. Prüfen, über welche Formen der Vernetzungen, über Runde Tische und Aktionsarten eine gesellschaftlich relevante, aber eben nicht in neue Hierarchien integrierbare große Bewegung entstehen kann.

Berlin, 16.04.1999 Ulrich Weiß

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