Rot-grüne Katastrophen und möglicher Sozialismus
Die Unenttäuschbaren
Kurz nach der Bundestagswahl schrieb ich, der Erfolg von Rot-Grün beruhe auf
Selbsttäuschung und Manipulation. Und ich setzte eine gewisse Hoffnung auf einen
Fortschritt im Denken und Handeln der unvermeidlich bald Ent-Täuschten. Dafür
wurde ich als bösartiger Mensch und angeblich notorischer Sozihasser
gescholten. Ich bekenne, ich habe mich geirrt und zwar gleich
mehrfach.
- Die Geschwindigkeit, mit der sich zeigte, daß die regierenden Rot-Grünen
diejenigen Menschen verarschen, die hofften, daß gute Herrschende etwas für
sie leisten, ist viel größer als ich annahm.
- Hinter dem (Medien-)Eindruck einer völligen Regierungskonfusion läuft
erkennbar konsequent das eigentliche Herrschaftsstück Der schnelle Tod des
Sozialstaates. Die rotzfreche offene Wurstigkeit, mit der Rot-Grün dies
zelebrieren kann, übersteigt auch meine Erwartung.
- Nach der Kohlschen patriarchalen Behäbigkeitsnummer bedarf es nicht einmal
mehr einer besonderen blairschen Schauspielkunst oder/und einiger
massenwirksamer sozialer Feigenblätter. Das besondere Interesse des
Es-muß-sich-rechnen wird umstandslos als das allgemein seligmachende
angeboten. Macht- und Kapital-Standortsbedürfnisse greifen national und global
offen durch auf die ganze Gesellschaft und die Familien. Die bisher
allgemeinen Aufgaben (Gesundheitswesen, Bildung, Wissenschaft, Kultur,
öffentlicher Verkehr, Infrastrukturen) werden privatisiert. Unverblümt bzw.
unverlafontainert verschlankt offenbart sich der Staat als etwas, das lange
vergessen schien, als der berüchtigte Marxsche geschäftsführende
Ausschuß. Das Überraschende: (Fast) kein Mensch wundert sich darüber
(außer denjenigen demokratischen Sozialisten, die weiter vom Exodus des
real-"sozialistischen" Politmanagement auf Koma umschulen, auf
altbundesdeutschen Branchen soziale Marktwirtschaft und FdGO).
- Auch jetzt, da die Herrschenden ihre angebliche Sorge fürs gemeine
Volk in die tatsächliche für Piech & Co verkehren und die Deutschen zur
Reife für Krieg Nr. 3 führen, dienen sich diese Umschüler den
Herrschaftsstrukturen weiter als Scharnier an für die eigenen Anhänger. Diese
versuchen nun nicht etwa – wie ich fälschlicherweise hoffte – jenseits von
Parteihierarchien und Selbstbetrug selbständig linke, alternative Bewegungen
für ein anderes Leben und Produzieren zustande zu bringen. Statt dessen laufen
gerade Leute, die angewidert von realo-rot-grüner Beförderung einst
verabscheuter Übel, genau dorthin über, wo sich das, was sie enttäuscht
verließen, gerade voll entfaltet – in die rötliche PDS.
Soviel Irrtum meinerseits muß tiefere Ursachen haben.
Wo liegen die Fehler?
1. Annahme: Menschen, die sich politisch auf Medien-"Bildung" und
Wahl-Demokratie beschränken, also Mehrheiten, lassen sich durch keinerlei
Ent-Täuschung von ihrer Heilserwartung auf höhere Wesen, auf angeblich
aufgeklärte Herrscher, von der Vorsehung ausgewählte Führer usw. abbringen.
Gerade die Deutschen bewirkten damit globale Katastrophen. Doch die Bereitschaft
scheint unzerbrechbar, treu auf den Vater Staat irgendeiner Couleur zu hoffen.
Selbst 1918 und in der DDR 1989, die bisherigen Herren waren fast aus Versehen
verjagt, hat sich die deutsche Untertanenseele sofort neuen Herren unterworfen.
Aus Schrecken über die plötzliche Freiheit, selbstbewußt Verhältnisse gestalten
zu können. Worauf dann ist zu hoffen, wenn keine noch so üble Erfahrung brave
Bürger dazu bringt, den eigenen Verstand zu gebrauchen und keinem Menschen zu
trauen, der verspricht, als Regierender Gutes für sie zu tun? Auf neue
spätkapitalistische Katastrophen? Diese machen eher solche Demagogen massenhaft
akzeptabel, gegen die die Schröder und Fischer noch Waisenknaben sind.
2. Annahme: Ein weiterer Teil von Menschen ist gerade aus realistischer
Einsicht in die tatsächliche Funktion von Obrigkeit gar nicht ent-täuschbar. Sie
empören sich logischerweise nicht über deren Verlogenheit, weil sie diese als
Bedingung jeglichen Regierens begreifen. Allenfalls hofft mensch auf einen
gewissem Unterhaltungswert der steuerfinanzierten Lug-und-Trug-Show, wohl
wissend, daß hinter diesem Vorhang früher schon Errungenes zugunsten des
Es-muß-sich-rechnen wieder verloren geht. Fern von Widerstand oder gar einer
Idee vom von Ringen für ein zivilisationsverträgliches gutes Leben und Arbeiten
genießt er/sie die Ästhetik des Zerfalls und geht ansonsten den eigenen
Geschäften nach. Kann aus solch zynisch-pragmatischem Realismus eine
zivilisierte Alternative entstehen? Kaum.
Also keinerlei Hoffnung?
Nein, wenn auf solche Politikformen und Theorien gesetzt wird, die in Ost und
West im 20. Jahrhundert ihren beschränkt-zivilisatorischen Sinn hatten. Das
betrifft alle Formen und Ideologien der alten sozialdemokratischen und
kommunistischen Arbeiterbewegung und des entgegenstehenden
bürgerlich-kapitalistischen Blocks, also
– Ausübung staatlicher Macht über den bürgerlichen Parlamentarismus bzw. die
sog. Diktatur des Proletariats,
– alle Parteistrukturen, die sich einst innerhalb bürgerlich-demokratischer
oder real-"sozialistischer" Verhältnisse bewährten,
– Theorien und Ideologien wie der ML, Trotzkismus, Maoismus, der
Keynesianismus und andere bürgerliche Regulierungs- und Herrschaftstheorien, die
o. g. Auseinandersetzungen flankierten.
Hoffnungsvoll
Wenn aber ausgehend von den Metropolen u.a. folgende
Tatsachen und Theorien in die Suche nach zukünftigen Akteuren und Formen
menschlicher Emanzipation einbezogen werden, dann sieht die Sache anders
aus:
- In Ost (1968 und 1989) und West (1968ff) hat es Bewegungen gegeben bzw.
gibt es sie noch, die nicht o. g. Strukturen und Theorien zuzuordnen sind. Sie
waren bzw. sind antiautoritär, radikaldemokratisch, auf Konfliktlösungen in
uneingeschränkter Öffentlichkeit (etwa an Runden Tischen) orientiert auf das
unmittelbare Geltendmachen von individuellen, kollektiven bzw.
allgemeinmenschlichen Existenzinteressen (siehe kommunale Bürgerinitiativen
bis hin zur Friedens- und Antiatomkraftbewegung). In der aufstrebenden,
emanzipatorischen Phase sind solche Bewegungen jeweils nicht auf die
Begründung einer neuen, sondern auf die Beschränkung oder Auflösung von
Herrschaft gerichtet. Damit treten nicht eng klassenbegrenzte, sondern
eher klassenungebundene Bewegungsformen hervor, in denen sich die jeweiligen
assoziierten Menschen die materiellen Bedingungen ihrer Existenz unterzuordnen
versuchen. Diese kurzzeitig freien und gleichen Individuen wurden bisher immer
wieder durch offenen Terror und mehr noch durch stummen Zwang der
(kapitalistischen) Ökonomie und herrschende Gewohnheiten in Staatshierarchien
integriert. Es wachsen aber die materiellen Voraussetzungen dafür, daß solche
Bewegungen dieser Transformation widerstehen und wirklich neue Gesellschaften
begründen könnten.
- Nunmehr möglicher nachhaltiger Erfolg erfordert, daß sich solche
Bewegungen in ihrem Protest gegen einzelne Erscheinungen spätkapitalistischer
Zivilisationsbedrohung praktisch und theoretisch zugleich der Frage stellen,
wie denn zivilisationsverträglich anders gelebt und gearbeitet werden kann.
Dabei geht es nicht nur um den kleinen bornierten Bereich (um diesen natürlich
auch) und ebenfalls nicht um einen Zwang zur Askese, sondern um die reiche
Individualität aller an den Assoziationen Beteiligten.
- Wem an theoretischer Vorwegnahme solcher allgemeinmenschlicher Umwälzung
der Gesellschaft gelegen ist, dem sei auch Streit mit Marx empfohlen:
–
Eine kritische Auseinandersetzung mit der sog. historischen Mission des
Proletariats. Bezogen auf die Erfahrungen der westlichen Arbeiterbewegung und
des Real-"Sozialismus" brachte mich das zur Auffassung: Die großen
zivilisatorischen Leistungen der Arbeiterklasse liegen innerhalb der
bürgerlich-kapitalistischen Epoche. Die traditionellen Strukturen und
konkreten Ziele der Arbeiterbewegung, etwa die Diktatur des Proletariats oder
das Bernsteinsche Hineinwachsen, sind ungeeignet, diesen Rahmen zu
überschreiten und die allgemeinmenschliche Emanzipation zu erringen.
–
Zugleich bieten die frühen Marxschen ökonomisch-philosophischen Schriften ein
ausgezeichnetes theoretisches Instrument, um die heutigen Möglichkeiten und
anderen Formen zur Begründung einer neuen Gesellschaft theoretisch fassen zu
können. Eine neue Auseinandersetzung mit folgenden Erkenntnissen von Marx
lohnt sich:
. Zusammenhang zwischen (knechtenden) Formen der
Arbeitsteilung, Privateigentum und Entfremdung (Deutsche Ideologie,
Ökonomisch-philosophische Manuskripte).
. Bestimmung aller Formen von
Theorie und Praxis als bürgerliche, die die gesellschaftlichen Veränderungen
knüpfen an die Spaltung der Gesellschaft in zwei Teile, von denen der eine
sich über sie erhebt (Thesen über Feuerbach). Damit das Begreifen der
nur partiellen Emanzipation (im Gegensatz zur allgemeinmenschlichen) als eine
im bürgerlich-kapitalistischen Rahmen verbleibende (Zur Judenfrage,
Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie).
. Versus
diktatorische und asketische Beschränkung des Individuums. Seine volle
Freiheit zur Ausprägung seiner Individualität ist ein unverzichtbares Element
jeder nachhaltigen sozialistisch-kommunistischen Bewegung (hierzu alle
Frühschriften).
– In den Kritiken der Politischen Ökonomie
beschreibt Marx solche materielle Veränderungen, durch die der Produzent
aus dem unmittelbaren Fertigungsprozeß heraustritt und zu dessen Kontrolleur
und Dirigent wird (Grundrisse ...). Maß und Triebkraft des Reichtums
sind dann nicht mehr die verausgabten Arbeitszeiten, sondern die Entfaltung
der Individualität der Produzenten und ihr unmittelbar-kooperatives
Zusammenwirken. Dieser antizipierte Prozeß läuft heute (allerdings in
barbarischer Weise) tatsächlich ab. Aus überzeugenden Gründen kann dies als
der Punkt bestimmt werden, da die kapitalistische Produktionsweise durch eine
sozialistisch-kommunistische erstmalig ablösbar wird.
– Weiter ist (gegen
Lenin und den ML) die Phase, da das Kapital dem Staat massenhaft die
allgemeinen Aufgaben entzieht (weil diese inzwischen profitabel lösbar), als
die höchste Form des Kapitalismus, als dessen letzte zivilisierende Tendenz
(Grundrisse ...) beschrieben. Meine Interpretation: Wo dies so wie
heute in den Metropolen massenhaft geschieht, ist endlich derjenige Punkt
erreicht, da sich emanzipatorische Bewegungen assoziierter Individuen mit den
Produktionsmitteln auch diese allgemeinen Bedingungen ihrer materiellen
Existenz unterordnen können. Sie müssen diese bisherigen Staatsaufgaben nicht
so wie bisher in allen Revolutionen wieder der Verfügung einer sich über die
Gesellschaft erhebenden Macht überlassen, also nicht wieder knechtende
Arbeitsteilung, Entfremdung, Klassenspaltungen, Staatsgewalt produzieren. Von
da an wird machbar, was in bisherigen Sozialismusversuchen praktisch unmöglich
und theoretisch undenkbar war, aber nach Marx ein unverzichtbares Kriterium
einer sozialistisch-kommunistischen Umwälzung ist: das Absterben des Staates
durch den Übergang zur Selbstverwaltung durch assoziierte Individuen.
- Es ist eine wunderbare Situation, daß es sich lohnt darüber nachzudenken,
was es eben für die Bewegungsformen bedeutet, wenn also die
bürgerlich-kapitalistische Epoche tatsächlich durchbrochen werden kann, weil
soziale Bewegungen nicht mehr wie 1917ff, 1945ff (ökonomisch) gezwungen sind,
ihren freiheitlichen Impuls doch wieder in neuen Herrschaftsstrukturen
verrotten zu lassen.
Soweit die Theorie – und die Praxis?
Meine Vorschläge für eine gemeinsame Suche nach Wegen in einen
emanzipatorischen Kommunismus:
- Alternatives Denken und konkrete Praxen der 68er und 89er (ehe sie wieder
in die bürgerlichen Machtstrukturen, politische Parteien, Parlaments- und
Staatsinstitutionen integriert wurden) wieder lebendig machen. Dazu den
zehnten Jahrestag der Wende nutzen.
- Mit aktuellen alternativen Bewegungen und Ökonomien vertraut machen. Hier
hat sich Theorie zu bewähren.
- Mit Prozessen in den Kernbereichen von lean-production, den sozialen und
sozial-psychologischen Konsequenzen dessen vertraut machen. Dies alles unter
folgenden Gesichtspunkten:
– Sind darin Elemente erkennbar oder gar
Bewegungen, die zur Begründung neuer emanzipatorischer, die
Kapitalverhältnisse aufhebender Formen des Lebens und Arbeitens führen
könnten?
– Sind Verbindungen zwischen diesen ökonomischen Prozessen und
außerökonomischen emanzipatorischen Bewegungen erkenn- bzw. herstellbar?
Entsprechende französische u.a. ausländischen Erfahrungen diskutieren.
- Mit Kulturformen derjenigen sozialen Gruppen beschäftigen, die durch die
Auflösung der fordistischen Produktionsformen aus ihrem bisherigen Lebens- und
Arbeitsgewohnheiten herausgeschleudert werden. Prüfen, welche
emanzipatorischen Potenzen in diesen Kreisen erwachsen.
- Prüfen, über welche Formen der Vernetzungen, über Runde Tische und
Aktionsarten eine gesellschaftlich relevante, aber eben nicht in neue
Hierarchien integrierbare große Bewegung entstehen kann.
Berlin, 16.04.1999 Ulrich Weiß
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