Die endliche Geschichte vom "sozialistischen" Fordismus

oder

Möglichkeiten und Grenzen der Sowjetgesellschaften

 

1. Ein weltfremder ideologischer Streit?

Die Oktoberrevolution und die in ihrer Folge entstandenen Gesellschaften werden mehrheitlich nach wie vor als sozialistisch bzw. kommunistisch bezeichnet. Genau dies, die sozialökonomischen Qualität der Sowjetgesellschaft, stelle ich zur Diskussion. Der Streit über den Charakter der östlichen Gesellschaften, über ihre etwaigen sozialistischen Errungenschaften, über verpaßte Chancen oder auch über die Möglichkeit, nach 1917 die bürgerlich-kapitalistische Epoche überhaupt überschreiten zu können, hängt unmittelbar mit folgenden strittigen Problemen alternativer bzw. sozialistischer Bewegungen zusammen:

Wer heute einschätzt, daß eine zivilisationsverträgliche Gesellschaft eine wesentlich andere Qualität als die westlich-kapitalistische haben muß, wer diese Qualität als sozialistisch bzw. kommunistisch bestimmt, kommt nicht um eine Antwort auf die Frage herum, inwiefern im Gefolge von 1917 bereits sozialistische Gesellschaften entstanden waren. Dies ist also kein Problem weltfremder Scholastik und Nostalgie, sondern eines heutiger Generationen. Sobald Menschen sich ernsthaft um die eigene Zukunft sorgen und aus den dominierenden Grundstrukturen gemeinschaftlich auszubrechen versuchen, werden sie mit dem historischen Erbe der Oktoberrevolution und mit dem Selbstverständnis der östlichen Gesellschaften konfrontiert. Es muß überzeugend beantwortet werden, ob zukunftssichernde Bewegungen auf ökonomische, politische und andere gesellschaftliche Grundstrukturen des sogenannten Realsozialismus – in welcher Variante auch immer – zurückgreifen können oder ob sich solche Bewegungen nicht nur von den westlich- kapitalistischen Grundstrukturen, sondern auch von den im Osten vorherrschenden ökonomischen und politischen Formen, Ideologien und Mentalitäten absetzen müssen.

Zu diesen Fragen treibt mich auch die Erinnerung an die DDR von 1989/90. Im Osten stellten plötzlich öffentlich viele Menschen die Frage nach dem nächsten praktischen Schritt zugleich als Problem eines wahrhaftigen oder eingebildeten, eines möglichen oder unmöglichen Sozialismus. In einer Situation, in der diese Menschen wußten oder zumindest glaubten, daß von ihnen tatsächlich die Richtung der weiteren Entwicklung abhängt, da sie selbst öffentlich aktiv wurden und dieser fast einzigartigen Chance, daß die Wissenschaft tatsächlich einmal die Marktplätze erreichten konnte, in der also Theorie große Umwälzungen zu etwas wirklich Neuem hätte anregen können, da haben die sich als sozialistische Theoretiker verstehenden Wissenschaftler vollkommen versagt. Das betrifft auch diejenigen, die in einem illusionären, aber achtenswerten Versuch eine Demontage verkrusteter Strukturen zugunsten einer verbesserten Variante des sogenannten Realsozialismus anstrebten. Die Dimension des tatsächlich erforderlichen Umbruchs der gegebenen Strukturen im Sinne eines sozialistischen Fortschritts war offenkundig den relevanten linken inneren und äußeren Kritikern der alten Verhältnisse nicht bewußt. Die Frage nach der tatsächlichen sozial-ökonomischen Qualität dieses "Sozialismus" nicht rechtzeitig bzw. nicht ernsthaft genug gestellt zu haben und die östliche Gesellschaft völlig unhinterfragt als eine wenn auch kritikwürdige so aber doch sozialistische Gesellschaft angesehen zu haben, bedeutete, sich geistig nur im Ost-West-Antagonismus zu bewegen. Eine grundsätzliche Alternative jenseits sowohl der westlichen als auch der östlichen Gesellschaft konnte so weder gedacht noch praktisch versucht werden. Auch diejenigen westlich-linken Bewegungen, die den Osten schon lange kritisierten und dort etwa wie die Trotzkisten unterdrückt wurden, verbanden ihre Kritik der östlichen Strukturen mit der Hoffnung, daß östliche Grundstrukturen in einen wahren Sozialismus reformierbar seien. Anderen "linken" Kritikern des Ostens geriet die Kritik zu einer Bevorzugung der westlichen Strukturen. Um im Brecht-Bild zu bleiben: es gab kein Teleskop, das gerichtet auf die erstarrten Verhältnisse in Ost und West mögliche Wege zu einem wirklich sozialistischem Umbruch statt der "Rettung" in einer Unterwerfung unter den Westen sichtbar gemacht hätte.

Angesichts der neuen Erfahrungen im westlichen Kapitalismus und eines um sich greifenden Endzeit-Empfindens, drängen sich dem (ostdeutschen) Alltagsbewußtsein wieder manche Grundzüge der östlichen Gesellschaft als erträglich oder erstrebenswert auf. Dabei werden in Abstraktion von den grundlegenden Zusammenhängen sogenannte gute und schlechte Seiten der DDR gegeneinander gestellt. Etwa so: Die sozialen Sicherheiten waren in Ordnung, der Zentralismus und die Machtorgane des Staates von Übel. Eine Zukunftsperspektive kommt so nicht in den Blick. Wer klären will, was Zukunft mit den früheren östlichen Strukturen zu tun haben kann und was nicht, kann dies nicht im Sinne eines Abzählreims tun, sondern unter Beachtung der inneren Zusammenhänge zwischen denjenigen Grundstrukturen – ob "gut" oder "schlecht" – , die allen seinen Varianten des "Sozialismus" zwischen Wladiwostok und Berlin gemein waren. Am 5. Januar 1918 überschrieb Antonio Gramsci im >Grido del popolo< einen Artikel über die Oktoberrevolution: Die Revolution gegen das >Kapital<. Ein solches In-Bezug-Setzen des Jahrhundertereignisses Oktoberrevolution bzw. der Sowjetgesellschaften zur Marxschen bzw. marxistisch(-leninistischen) Theorie ist für die heutige Suche nach zukunftsfähigen Wegen hochaktuell.

2. Durch Staatskapitalismus hindurch – die verzweifelte Kühnheit von Revolutionären

Außer in wenigen Zentren war um die Jahrhundertwende die kapitalistische Form der Produktion und die bürgerliche Gesellschaft im zaristischen Rußland noch wenig entwickelt. Ob auf dieser Basis eine sozialistische Gesellschaft möglich ist, war um 1917 in der internationalen Arbeiterbewegung heftig umstritten. Auch Lenin ging davon aus, daß "zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist" und daß die Einschätzung von Vertretern der II. Internationalen – "Rußland hat in der Entwicklung der Produktivkräfte noch nicht die Höhe erreicht, bei welcher der Sozialismus möglich wäre" – unstrittig ist. Es sei aber, so 1923 der kühn-verzweifelte Lenin, gerade "die völlige Ausweglosigkeit der Lage, wodurch die Kräfte der Arbeiter und Bauern verzehnfacht wurde". Das eröfffne "die Möglichkeit eines anderen Übergangs" als der in Westeuropa zu erwartende. In Rußland seien "auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung", also "auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau" zu erringen, das für die Schaffung des Sozialismus unerläßlich ist.

Erweitern wir also – hier Lenin vorläufig folgend – die Frage nach den sozialökonomischen Voraussetzungen der Oktoberrevolution und der Sowjetgesellschaft für das Ringen um Sozialismus: War später auf der Grundlage der Großindustrie, die in der Sowjetgesellschaft bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein tatsächlich geschaffen wurde, Sozialismus möglich? Dann wäre der Oktoberrevolution etwa in dem Sinne ein sozialistischer Charakter zuzubilligen, daß sie eine politische Struktur begründete, unter der die notwendigen ökonomischen Bedingungen für den Sozialismus geschaffen wurden. Die Politik, die sowjetische Staatsmacht, hätte dann sozusagen einen Brückenkopf in eine sozialistische Zukunft geschlagen, der dann ökonomisch abzusichern und zu erweitern gewesen wäre. Der "Staatskapitalismus, den wir bei uns geschaffen haben", um "auf indirektem Wege" die "wichtigste Frage ... die ökonomische Vorbereitung der sozialistischen Wirtschaft" zu lösen, ist laut Lenin "ein eigenartiger Staatskapitalismus. Er entspricht nicht dem gewöhnlichen Begriff des Staatskapitalismus." Warum? Weil die Bolschewiki über "alle Kommandohöhen" verfügen, weil "der proletarische Staat nicht nur Grund und Boden, sondern alle wichtigsten Teile der Industrie in seinen Händen hält." Hätte demzufolge etwa nach dem XX. Parteitag ohne einen erneuten revolutionären Umbruch der grundlegenden ökonomischen und politischen Strukturen, also ohne sozialistische Revolution die UdSSR in eine sozialistische Gesellschaft transformiert werden können? Ich verneine dies mit folgenden vorläufigen Begründungen und Thesen.

Die notwendige Großindustrie (und ohne diese war die Sowjetgesellschaft ohnehin nicht überlebensfähig) konnte nur in einer Form geschaffen werden, die in ökonomischer und politischer Hinsicht nicht als Grundlage einer sozialistischen Gesellschaft geeignet ist. Das ist nicht als Ergebnis eventueller individueller Fehlleistungen der Herrschenden zu verstehen.

Die politische Struktur der Sowjetgesellschaft kann als eine durchaus angemessene spezifische Entwicklungsbedingung einer nachholenden, einer zum Teil ursprünglichen, zum Teil entwickelteren und parallel zum Westen verlaufenden kapitalistischen Akkumulation unter extrem ungünstigen inneren und internationalen Bedingungen bestimmt werden.

Die stalinistische Ordnung der Sowjetunion entwickelte sich nicht im Gegensatz zur ökonomischen Grundlage. Das gilt auch umgekehrt. Stalinistische Ökonomie und Politik waren zueinander lange Zeit durchaus kompatibel, fanden jeweils im anderen Voraussetzung, Mittel und Zweck.

Das als wahr vorausgesetzt, dann bedeuten dies: Es gab in der sowjetischen Geschichte auch unter anderen denkbaren politischen Führungen nicht die Möglichkeit, durch Reformen, also unter Nutzung gegebener Grundstrukturen, eine sozialistische Produktionsweise als ökonomische Basis einer sozialistischen Gesellschaft zu schaffen.

Es ist klar, daß derartige Fragen und Hypothesen zwingen, die Marxschen Kategorien wie Kapitalismus, Sozialismus, Gesellschaftsformation sowie Formen und Kriterien für eine sozialistische Aufhebung des Kapitalverhältnisses selbst zur Diskussion zu stellen. Die provokative Artikelüberschrift von Gramsci ist als Fragestellung ernst zu nehmen.

3. Zwänge der Umstände versus allgemeinmenschliche Emanzipation – Abschied von der sozialistischen Perspektive?

"Kapitalom po kapitalu!", "Mit dem Kapital gegen das Kapital!" So wurde das Titelbild der Moskauer satirischen Zeitschrift Krokodil vom 1. April 1923 überschrieben. Das Wortspiel konnte damals witzig erscheinen, drückte es doch die Sicherheit der sich historisch überlegen fühlenden Revolutionäre aus. Diese hatten gerade die feudalen Kräften und die eigenen Kapitalisten geschlagen und sie mitsamt den ausländischen Interventionstruppen aus dem Lande gefegt. Manchem Revolutionär und mancher Revolutionärin allerdings blieb dieser Witz eher im Halse stecken. Mensch lese Fjodor Gladkows Zement oder sehe Heiner Müllers gleichnamiges Theaterstück (nach Gladkow): Der Ingenieur Kleist, zuvor ein kapitalistische Manager, der die Revolutionäre als anarchistische Zerstörer seiner Lebensleistung, des Zementwerkes, und der alten frühkapitalistisch-halbfeudalen Ordnung, in der er sich entfalten konnte, tödlich haßt, wird durch den Revolutionär Gleb gezwungen oder vielmehr als leidenschaftlicher Techniker (als Direktor der Produktion, deren "Wächter und Regulator" wie Marx sagt) verführt, in den Dienst der Sowjetmacht zu treten. Warum wird er zum Genossen erklärt und nicht wie erwartet erschossen? Gleb: "Genosse Techniker ... Köpfe brauchen wir." Wofür? Für "Tausende muskulöser Hände und Rücken ..." Warum wird den Arbeitern, die doch eigentlich den Staat regieren sollten (sprich: ihn abschaffen), bereits auf Betriebsebene eine neue Herrschaft vorgesetzt? Aus Dummheit, Bösartigkeit, Machtgeilheit der Revolutionäre? Das ist ebenso wie die verbreitete Ableitung der menschenfeindliche Tendenz des westlichen Kapitalismus aus üblen Charaktereigenschaften der Kapitalisten oder der Menschen überhaupt plausibler Quatsch. Zunächst war es ein Zwang des Kampfes gegen den Hunger. Und zweitens geschah dies häufig aus der Überzeugung heraus: "Mit dem Bau des Zementwerks beginnt der konkrete Sozialismus." Diese Überzeugung machte die dumpfe Ahnung oder auch die klare Erkenntnis einigermaßen erträglich, daß sich wieder Verhältnisse herstellen werden, unter denen es "Stiernacken und gesunder Nerven bedarf", um nach dem politisch-militärischen Sieg über die konterrevolutionären Truppen weiter "Bolschewik bis zum Schluß [zu] bleiben": Die alte Autorität der Kleists und die des Bürokratismus stellt sich wieder her. Es rekonstruiert sich also eine besondere Klasse, die die Produktion organisiert, ihre Ziele stellt, die gesamtgesellschaftlichen politischen oder ideologischen Voraussetzungen dafür sichert und damit die unmittelbaren Produzenten ihrer Herrschaft unterwirft.

Die Hoffnung über die unzureichenden Ausgangsbedingungen hinaus über einen Umweg zum Sozialismus zu kommen, betäubte die dem entgegenstehende Logik der Zwänge. Es war bereits ausgesprochen, daß der wieder zugelassene Kapitalist bzw. dessen Manager, beide hier auch in ihrer "sozialistischen" Variante – "sozialistischer" Leiter/Staatsfunktionär– , damit der gleichermaßen benötigte Bürokrat des "sozialistischen" Staates "der Hammer sein [wird] mit dem das Kapital die Revolution ans Kreuz schlägt." Sie waren unabdingbar, um die in knechtender Arbeitsteilung laufende Produktion als Ganzes zu organisieren. In diesem unvermeidlichen Widerspruch wirkend und um nicht die letzte Hoffnung auf den sich letztlich doch noch durchsetzenden sozialistischen Charakter der Oktoberrevolution aufzugeben, haben unzählige einstige Revolutionäre selbst um den Preis der eigenen Vernichtung die stalinistischen Strukturen aktiv gestützt.

Und die Menschen, die wie Gladkows Polja und Iwagin beim Aufbau der Sowjetgesellschaft ihre menschlich-sozialistischen Ideale nicht taktisch und schließlich dauerhaft zurückstellten, die die immer sichtbarer werdenden Widersprüche zwischen dem ursprünglich allgemeinmenschlich-emanzipatorischen Anspruch und der Realität offen benannten? Sie wurden von den Bürokraten aus der Partei gefegt (und später in die GULAGs oder/und den Tod getrieben). Was trieb viele Revolutionäre bzw. ehemalige Unterdrückte, die durch die Revolution in Funktionen kamen, zu Bürokraten zu werden? War das die falsche Ideologie, mangelnde Aufklärung, ein angeblich ewig Böses im Menschen? Es waren in letzter Instanz die genannten und noch zu benennenden Bedingungen, unter denen sich die Partei und die ganze Sowjetmacht zu solchen Organisationen transformierte, die zwar gegenüber dem Zarismus einen partiellen zivilisatorischen Fortschritt ermöglichten, die dies aber nur um dem Preis der Aufgabe ihres allgemeinmenschlichen, also sozialistischen Zieles tun konnten.

"Was hier gebraucht wird", heißt es bei Gladkow/Müller "ist Zement." Erstens. Und der war zweitens eben noch über eine lange Zeit nicht auf sozialistische Weise zu haben. Das sind zwei nicht zu ignorierende Tatsachen. "Arbeiter schaffe Meng auf Menge .... Bezahle, locke, presse bei! ... Daß sich das größte Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände". Dieses von Goethe formulierte Prinzip jeder bürgerlich-kapitalistischen Produktion mit ihren zivilisatorischen Fortschritten und ihren unvermeidlich barbarischen Seiten, mit dem der Revolutionär Gleb/Faust gleichsam den Ingenieur Kleist gewinnt und die Arbeiter in die Lohnarbeit und Knechtschaft zurücktreibt, dieses Prinzip war noch nicht aufhebbar. Dies muß der Untersuchung der Frage zugrunde gelegt werden, wieso Revolutionäre ihre emanzipatorischen Ziele fahren ließen, sich selbst und viele Menschen, für deren Glück sie angetreten waren, unter ihre Herrschaft brachten, also den angenommenen sozialistischen Charakter der Revolution ans Kreuz schlugen. Wer die Tatsachen, die dem allen zugrunde liegen, ignoriert und zugleich die einzelnen ideologischen Schritte dieses Prozesses der Rekonstruktion von Herrschaft untersuchen will, der bzw. die argumentiert im luftleeren Raum.

Ich bezweifle selbstverständlich nicht, daß der Sowjetstaat im erbitterten Kampf mit Kapitalisten stand. Doch ein Kampf mit Kapitalisten bzw. mit kapitalistischen Staaten ist zunächst einmal eine Existenzbedingung auch im westlichen Imperialismus. Diese Tatsache sagt also noch nichts über den Charakter der die Kapitalisten bekämpfenden östlichen Kraft aus. Sowjetrußland rang um Existenz und Einfluß auch in wechselnden Koalitionen mit westlichen kapitalistischen Mächten. Auch der Kampf gegen den deutschen Faschismus belegt noch keinen sozialistischen Charakter der Sowjetunion (wohl aber deren zivilisationsfördernde Kraft). Die eigenen russischen vorrevolutionären Bourgeois wurden 1917/18 zunächst tatsächlich enteignet. 70 Jahre lang wurde auch jeder noch so mörderische Versuch des ausländischen Kapitals abgewehrt, sich den russisch-sowjetischen Raum als Markt und Beute aufzuteilen. All dies hebt jedoch nicht die Frage auf, ob im Innern der Sowjetgesellschaft wirklich die Kapitalverhältnisse zugunsten des Sozialismus aufgehoben worden – eine Frage die ich gemäß dem Selbstverständnis eines Patrioten der real-"sozialistischen" Gesellschaften noch vor wenigen Jahren als eine üble antikommunistische Provokation abgewiesen hätte.

4. Die sozialistischen Potenzen der russischen Dorfgemeinde – Fragen an Marx

War also die Oktoberrevolution 1917 eine Revolution gegen Das Kapital? Thomas Kuczynski antwortet mit einem klaren "Ja". Marx sei im Kapital davon ausgegangen, daß in den kapitalistisch fortgeschrittenen Ländern die Bedingungen für eine erfolgreiche sozialistische Umwälzung heranreifen und diese von dort ausgehen kann und wird. Doch – so Kuczynski weiter – werde das Marxsche Gesamtwerk einbezogen, wird die Antwort differenzierter. Wer dies tut, wird finden – so möchte ich ergänzen –, daß das "Ja" noch klarer wird, weil von verschiedenen Seiten her begründet.

Marx wurde 1881 von Vera Sassulitsch gefragt, ob es möglich ist, daß die Gemeineigentumsstruktur der russischen Dorfgemeinde, der Mir, direkt zum konstituierenden Element einer sozialistischen Gesellschaft werden kann. Marx tat sich mit der Antwort schwer. Er bedauerte, "keine bündige, für die Öffentlichkeit bestimmte Auskunft über diese Frage geben zu können" und fertigte vier Varianten eines Antwortbriefes an. Er sieht in der russischen Dorfgemeinde, solange sie noch nicht von der Kapitalisierung zersetzt ist, ein dem Sozialismus nahes, ihn unter bestimmten Umständen konstituierendes Element. Die Mir nimmt nach Marx "eine einzigartige Stellung ein, die keinen Präzedenzfall in der Geschichte aufweist." In der russischen Gemeinde herrscht "die organische ... Form im Landleben" vor. "Das Gemeineigentum an Grund und Boden bietet ihr die natürliche Basis der kollektiven Aneignung". Darin jedoch kann nicht ihre Einzigartigkeit bestehen, denn solche Formen im Landleben gab es in vielen Teilen der Welt (und – sofern vom inzwischen neoliberalen Kapitalismus nicht endgültig zerfressen – es gibt sie auch noch heute). Was ist für Marx im Falle Rußlands (und könnte es heute in vielen Fällen sein) die Besonderheit?

Nach Marx könnte, im Unterschied zu vergleichbaren Strukturen in anderen Zeiten und in anderen Regionen die russische Dorfgemeinde deshalb unmittelbar zu einem konstituierenden Element des Sozialismus werden, weil die sie in einem ganz bestimmten regionalem (nämlich dem europäischen Einfluß ausgesetzten) und historischen Milieu existierte. Die historische Besonderheit liegt in der "Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion" auf internationaler Ebene. Diese "bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstab organisierten kollektiven Arbeit. Sie kann sich also die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften aneignen, ohne dessen Kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen. Sie kann den parzellierten Ackerbau allmählich durch eine kombinierte und mit Hilfe von Maschinen betriebene Landwirtschaft ersetzen ... Nachdem sie erst einmal in ihrer jetzigen Form in eine normale Lage versetzt worden ist, kann sie der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, und ein neues Leben anfangen, ohne mit ihrem Selbstmord zu beginnen."

Halten wir hier den Marxschen Gedanken fest, daß sich ihm bereits um 1880 auf internationaler Ebene "die materiellen Bedingungen der in großem Maßstab organisierten kollektiven Arbeit", der sozialistischen Arbeit, fix und fertig darbieten. Darauf komme ich später u.a. auch mit Marx argumentierend wieder kritisch zurück.

Zunächst ist hier für unsere Fragestellung entscheidend: Nach Marx können auch solche Strukturen, die noch nicht die Höhe des entfalteten Kapitalismus erreicht haben, die gegebenenfalls sogar vorkapitalistischen Ordnungen angehören, zu konstituierenden Elementen des Sozialismus zu werden, wenn mindestens folgende Bedingungen erfüllt sind: Erstens müssen eben international bereits fix und fertig "materielle Bedingungen der in großem Maßstab organisierten kollektiven Arbeit" vorhanden und zweitens müssen diese den Revolutionären, die innerhalb unterentwickelter Verhältnisse siegreich sind, auch tatsächlich zugänglich sein. Ohne die von Marx genannten Bedingungen, so Engels 1894, "konnte doch wahrlich nicht von Rußland verlangt werden, es solle sich auf Grund der Bauerngemeinde in staatssozialistische Experimente von oben herab stürzen." Die Entwicklung nach dem Oktober 1917 geradezu vorausahnend schreibt Engels weiter: Ohne "den Sieg des modernen industriellen Proletariats ... [kann] das heutige Rußland weder aus der Gemeinde noch aus dem Kapitalismus heraus zu einer sozialistischen Umgestaltung kommen."

Marx’ Gedanken über einen möglichen russischen Weges zum Sozialismus auf der Grundlage noch vorkapitalistischer Verhältnisse widersprechen jedenfalls seiner allgemein bekannten Auffassung über die erst im entwickelten Kapitalismus entstehenden ökonomischen Voraussetzungen für einen Übergang zum Sozialismus nicht. Im internationalen Maßstab gesehen können sozialistische Bewegungen nur dann erfolgreich sein, wenn zumindest in den entscheidenden Zentren die "Kaudinischen Pässe" des entfalteten Kapitalismus bereits durchschritten sind. Für im Verhältnis zu den Metropolen periphere emanzipatorische Bewegungen gilt: Wenn sie Zeitgenossen von bereits "fix und fertig" vorhandenen materiellen Bedingungen einer im "großen Maßstab organisierten kollektiven Arbeit" sind und wenn sie sich auf eine entsprechende siegreiche sozialistische Bewegung in den Metropolen stützen, können sie selbst auch einen sozialistischen Charakter annehmen. Ohne dieses spezifische "historische Milieu" gewinnt ansonsten auch kein "Gemeineigentum an Grund und Boden ... [als] natürliche Basis der kollektiven Aneignung" – ich füge hinzu: auch kein Staatseigentum – einen sozialistischen Charakter. Fehlen solche Bedingungen, bedeutet die ökonomische Entwicklung unweigerlich Kapitalisierung, also (Selbst-)Mord auch solcher überkommender oder mit sozialistischer Absicht in revolutionärer Zeit geschaffener Strukturen, die bei einem anderen historischen Milieu unmittelbarer Ausgangspunkt eines sozialistischer Produktions- und Lebensweise werden könnten.

Die Bestimmung des für eine erfolgreiche sozialistische Revolution notwendigen Niveaus der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse schien für viele Marxisten spätestens nach dem postulierten "Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" in der SU in den 30er Jahren praktisch und theoretisch gelöst zu sein. Ich benötigte den Denkanstoß der Wende, um mich dieser Frage als einer noch offenen zu stellen und die Sozialismusvoraussetzungen in Ost und West neu überdenken zu können. Das führt zum tieferliegenden Problem: Ist, gegründet auf die dominierende Produktionsweise im 20. Jahrhundert, auf die fordistische, überhaupt eine sozialistische Entwicklung möglich? Ein solches Herangehen wird gelegentlich als "ökonomistischer Automatismus" – als sei der Marxsche Geschichtsmaterialismus eine Sache, die mit dem Sieg der Bolschewiki und dem Selbstverständnis der Sowjetgesellschaft als eine sozialistische ihre Gültigkeit verloren hätte. Diese Frage aufzuwerfen, stellt auch Marx’ bereits zitierter Bemerkung in Frage, daß um 1880 in den Metropolen bereits die materiellen Bedingungen einer sozialistischen Umwälzung fix und fertig gegeben waren.

5. Moderne Technik + Monopol + proletarische Revolution = Sozialismus?

Die Bolschewiki wollten nachholend unter dem Schutz der proletarischen Diktatur die für eine sozialistische Entwicklung unverzichtbaren wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen schaffen. Die bis dahin gängige Sozialismusauffassung umwälzend, hielt Lenin auf diesem Weg den Rückgriff (für Rußland hätte dies eher heißen müssen: den Vorgriff) auf kapitalistische Wirtschaftsstrukturen für unumgänglich. Es ging ihm nicht nur darum, die Produktion unter Nutzung der modernsten Technik zu entwickeln. Lenin sah auch im kapitalistischen (Staats-)Monopol diejenigen Strukturen vollständig ausgebildet vorliegen, die unter bestimmten politischen Verhältnissen, nämlich denen der Sowjetmacht, unvermeidlich einen sozialistischen Charakter erhalten müßten. Er konnte sich dabei auch auf Marx beziehen: Für jenen ist z. B. die "Bildung von Aktiengesellschaften ... die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst ... Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums." Und über die historische Tendenz der kapitalistischen Akkumulation schreibt Marx: "Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert. ... hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse."

Welche konkreten Wirtschaftsmodelle hatte Lenin im Auge, in denen er dem Sozialismus gemäße "fix und fertige" Produktionsmittel sowie die nur von ihrer kapitalistischen Hülle zu befreiende Produktionsstrukturen vorzufinden glaubte? Die zentralistische deutsche Kriegswirtschaft, die großen Trusts und Staatsbetriebe wie die Deutsche Post. In Deutschland, so schreibt Lenin, "haben wir das 'letzte Wort' moderner großkapitalistische Technik und planmäßiger Organisation, die dem junkerlich-bürgerlichen Imperialismus unterstellt sind. Man lasse die hervorgehobenen Wörter aus, setze an Stelle des militärischen, junkerlichen, bürgerlichen, imperialistischen Staates ebenfalls einen Staat, aber einen Staat von anderem sozialem Typus, mit anderem Klasseninhalt, den Sowjetstaat, d.h. einen proletarischen Staat, und man wird die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt." Sozialismus ist nach Lenin "... nichts anderes als der nächste Schritt vorwärts über das staatskapitalistische Monopol hinaus. ... als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein." Dieser "Sozialismus aber schaut jetzt bereits durch alle Fenster des modernen Kapitalismus auf uns; in jeder großen Maßnahme, die auf der Grundlage dieses jüngsten Kapitalismus einen Schritt vorwärts bedeutet, zeichnet sich der Sozialismus unmittelbar, in der Praxis, ab."

6. Barbarisch gegen die Barbarei?

Der alles entscheidende Unterschied zum westlichen Monopolkapitalismus sollte also nach Lenin politisch determiniert sein. Die Ausschaltung der bisherigen Eigentümer und die Herrschaft des proletarischen Staates über die Monopolstrukturen sollten den Unterschied ums Ganze begründen. Die Einwände der russischen linken bzw. der sogenannten echten Kommunisten sowie die "Phrasendrescherei der Kautsky, der Menschewiki und Sozialrevolutionäre samt ihren lieben Berner ‘Brüdern’", die "alles auf die Arbeitsbedingungen zurückführen" , ließ Lenin nicht gelten. Er setzte auf staatliche Herrschaft, kommunistischem Enthusiasmus, auf eine auf das ganze Volk auszuweitende Fähigkeit des Proletariats zu disziplinierter Ein- und Unterordnung unter die Erfordernisse von großer Produktion. Es ging um Arbeitsarmeen und nicht um Diskussionen über direkte Volksherrschaft und über Arbeitsdemokratie. Gegenüber seinen damaligen Genossen argumentierte Lenin überzeugend mit Bezug auf die objektive Situation, die zu beherrschen war: "Weniger schwülstige Phrasen und mehr einfache, alltägliche Arbeit, mehr Sorge um das Pud Getreide und das Pud Kohle!" Seine linken Kontrahenten klagten gerade in Bezug auf die Produktion, besonders auf die Arbeitsbedingungen, sozialistische emanzipatorische Forderungen ein – Lenin antwortete mit dem Verweis auf die Realität des hungernden, ums Überleben kämpfenden Sowjetrußland. "Solange in Deutschland die Revolution noch mit ihrer 'Geburt' säumt, ist es unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, kein diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme noch stärker zu beschleunigen, als Peter die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Rußland beschleunigte, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken."

Auch in Kenntnis der weiteren historischen Entwicklung ist Lenins damaliger Realismus anzuerkennen. Doch gerade jener mit Bezug auf die tatsächliche Situation des hungernden Volkes überzeugend abgeschmetterte Verweis auf die Arbeitsbedingungen, unter denen sich die Industrieproduktion auch international unter weniger dramatischen Umständen als in Sowjetrußland entwickelte und entwickeln mußte, war vollkommen berechtigt. Dieser Einwand ist dann um so mehr ernst zu nehmen, wenn es nicht um irgendeinen Fortschritt geht, etwa um den immer barbarisch-widersprüchlichen einer Klassengesellschaft, sondern wie die Bolschewiki behaupteten, um einen zumindest mittelfristig sozialistischen. Dieser Streit zwischen Lenin und seinen kommunistischen, sozialrevolutionären und anarchistischen Kritikern beschreibt ein Dilemma: Welcher Weg auch eingeschlagen wurde, ein Fortschritt im Sinne einer allgemeinmenschlichen Emanzipation, also ein sozialistischer, konnte es nicht sein. Ohne entsprechende materiell-technische Basis ist Sozialismus unmöglich. Diese aber zu schaffen, bedeutete unter den russischen Bedingungen einen Rückgriff (oder besser einen Vorgriff, wie wir noch zeigen werden) auf sozialismusfremde bzw. antisozialistische Methoden. In der Industrie waren Arbeitsbedingungen, auf die sich eine sozialistische Gesellschaft gründen kann, vorerst weder im Westen noch in Rußland herstellbar. Es sind gerade die Zusammenhänge zwischen der Gestaltung von Arbeitsbedingungen in der großen Industrie, der Monopolisierung und dem Ausbau staatlicher Regulierungen (Prozesse, die sich auch im Westen mit ungeheurer Dynamik entfalteten und – etwa im amerikanischen New Deal, im Faschismus, in der sogenannten sozialen Marktwirtschaft und in anderen Varianten – sehr unterschiedliche, doch wesensgleiche kapitalistische Entwicklungsformen annahmen), die verständlich machen, warum auch unter einer bolschewistischen Herrschaft keine sozialistische Gesellschaftsformation entstehen konnte. Das Jahrzehnte aufstrebende und nun beendete Sowjetprojekt zwischen Ostberlin und Wladiwostok zeigt, daß die Gesellschaft auf der in Rußland und nicht nur dort vorgefundenen ökonomischen Basis und auf einem dieser Grundlage durchaus kompatiblen Weg zur Entwicklung der Produktivkräfte zwar zivilisatorische Leistungen erbringen kann. Assoziationen freier Individuen dagegen können sich so nicht nur nicht gestalten. Um der Existenz des sowjetischen Staates willen werden diese vielmehr bekämpft (In anderen Formen geschieht dies auch im Westen – vergleiche die Ereignisse des Jahres 1968 in Ost und West.) Der Staat, der als Diktatur des Proletariats nach Lenin "im eigentlichen Sinne des Wortes" schon keiner mehr sein sollte, starb nicht wie erwartet allmählich ab, sondern übernahm in Ost (wie West) immer weitere Funktionen. Die Entfremdung wurde auch im Osten nicht nur nicht aufgehoben, sondern ins Extreme gesteigert. Der Dienst am "sozialistischen" Staat wurde zum geradezu religiösen und vielfach angenommen Ideal (vergleiche das Gelöbnis zur Jugendweihe). Die Industriearbeiter selbst beherrschten keinesfalls in selbstbestimmten genossenschaftlichen Assoziationen die materiellen Bedingungen ihrer Existenz. Sie waren funktionierende Teile eines zentralistischen Systems, das sie durch ihre Arbeit trugen, auf das sie selbst aber keinen realen Einfluß hatten. Sie waren daran durch Administration, Ideologie und zunehmend individualisierte materielle Interessen gebunden. Letztere – die unmittelbaren ökonomischen Interessen des isolierten, seine Arbeitskraft notwendigerweise verkaufenden Individuums – waren die jeder entwickelten Warenproduktion entsprechenden Bande, die sich mit dem "sozialistischen" Fortschritt entfalteten. In der DDR charakterisiert etwa der Wechsel von der frühen Losung Vom Ich zum Wir! zum Honeckerschen Ich leiste was – ich leiste mir was! den Übergang von der sozialistisch-kommunistischen Illusion zur Anerkennung der tatsächlichen sozialökonomischen Stellung des Lohnarbeiters und der das Kommando über die Arbeit führenden "sozialistischen" Leiters. Die proklamierte Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik war eine DDR-spezifische Form des kapitalistisch-fordistischen Gesellschaftsvertrages.

7. Begrenzt freier Lohnarbeiter und eingeschränkte Konkurrenz – kein Beweis für Sozialismus

Die in den Sowjetgesellschaften verbreitete eingeschränkte Verfügbarkeit des Lohnarbeiters über seine eigene Arbeitskraft (die Einschränkung wurde mit der fortschreitender Entwicklung der "sozialistischen" Ökonomie allerdings abgebaut), änderte nichts an der prinzipiellen Stellung des Arbeiters als Lohnarbeiter. Die Einschränkungen resultierten eher aus Entwicklungsrückständen innerhalb der kapitalistischen Epoche. Sie waren eine durchaus erfolgreich angewandte Methode einer zentral geleiteten nachholenden kapitalistischen Akkumulation. Solche Einschränkungen und Zwangsverpflichtungen waren nicht nur in der frühen Geschichte des westlichen Kapitalismus verbreitet, sie waren und sind auch etwa in Form von Dienstverpflichtungen, Pflichtjahr und anderen Zwangsarbeitsverhältnissen (auch gegenüber ABM-Kräften und Sozialhilfeempfängern wird zunehmend Arbeitszwang angewandt) im zeitgenössischen "normalen" Kapitalismus anzutreffen. Sie sind also durchaus auch mit Kapitalismus vereinbar. Mit der Einschränkung der Freiheit zum Verkauf seiner Arbeitskraft durch den Lohnarbeiter kann jedenfalls kein sozialistischer Charakter einer Produktionsweise begründet werden.

Ähnliches gilt für die Einschränkung von Konkurrenz zwischen den Unternehmen bzw. den einzelnen Kapitalen durch das Staatsmonopol. Fehlende oder eingeschränkte Konkurrenz innerhalb der jeweiligen "sozialistischen" Volkswirtschaften wird gelegentlich als Argument dafür angeführt, daß es sich bei den östlichen Gesellschaften um sozialistische gehandelt haben müsse bzw. daß sie zumindest keine kapitalistischen gewesen sein können. Es ist wahr, bei den Industrieunternehmen im Osten handelte es sich, vermittelt über Zwischenstrukturen, in der DDR z. B. die VVB bzw. später sogenannten Kombinate, um staatlich geleitete große Konzerne. Es gab nicht nur auf dieser Ebene – wie auch in westlichen Konzernen – Planungen, sondern auch innerhalb der gesamten Volkswirtschaft Plan- und Preisbindungen. Es existierte ein Außenhandelsmonopol. Diese und andere Besonderheiten, die die freie Konkurrenz einschränkten – in bestimmten Epochen wie gesagt eine vorübergehende Tendenz auch der westlichen Volkswirtschaften – hoben aber die grundsätzliche Stellung der Arbeiter als Lohnarbeiter, ihren Ausschluß aus der Verfügung über die Produktion und die Produkte, nicht auf. Hier wie auch auf Ebene internationaler Wirtschaftsbeziehungen zwischen den "sozialistischen" Ländern und zwischen Ost und West haben sich letztlich "die allgemeinen und notwendigen Tendenzen des Kapitals", die "zu unterscheiden von ihren Erscheinungsformen", "als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend gemacht". Der Kampf zwischen den Supermächten, zwischen der "sozialistischen" Staatengemeinschaft und den NATO-Staaten, auch zwischen Ost- und Westdeutschland, war eine historisch spezifische "Art und Weise, wie die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion in der äußeren Bewegung der Kapitale erscheinen", wie sich eben die genannten Zwangsgesetze der Konkurrenz gelten machen. Auch die den kalten Krieg flankierenden ideologischen Konstruktionen können mit Marx verstanden werden, "als treibende Motive", in denen dieser Zwangsgesetze "dem individuellen Kapitalisten" ebenso wie den "sozialistischen" Führern und Leitern "zum Bewußtsein kommen." Was für die jeweils individuellen Kapitalisten und deren Assoziationen galt und gilt, trifft im imperialistischen Zeitalter auch für die Unternehmen der geschäftsführenden Ausschüsse der Kapitalisten, die Staatsbetriebe, bzw. für den "sozialistischen" Staat mit all seinen Leitern/Unternehmern zu. Die DDR-Losungen wie Verantwortung für das Ganze zeigen!, Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz für den Frieden (austauschbar mit: Kampfplatz gegen den Imperialismus, für den Sozialismus, den sozialistischen Staat, für das Wohl des Volkes) sowie das umfassende Auszeichnungs- und Medaillenwesen waren spezifisch östliche und lange Zeit auch wirksame "sozialistische" Formen der Schaffung der cooperativ identity, die – der "sozialistischen" Phraseologie entkleidet – kapitalistischen Konzernen nicht fremd sind.

8. Linke Kommunisten gegen Lenin

Lenin beschreibt richtig, daß man 1917 nicht vorwärtskommen kann, ohne das durchzumachen, was sich an Fortschritten in der kapitalistischen Produktion abzeichnet. Es ist auch richtig, dies als unumgänglichen Fortschritt in Richtung Sozialismus zu bezeichnen. Der Irrtum liegt darin, diesen Durchgang selbst, die nachholende und zum Teil zum Westen parallele kapitalistische Entwicklung, schon als sozialistisch einzuschätzen, zu glauben, daß etwa Rechnungsführung und Kontrolle, wenn sie nur unter der Herrschaft eines "proletarischen" Staates und zur Erfüllung eines Staatsplanes erfolgt, einen sozialistischen Charakter annimmt. Die linken Kommunisten ihrerseits waren im Unrecht, wenn sie den Staatskapitalismus als eine Bedrohung ablehnten. Diese "Bedrohung" war tatsächlich ein Fortschritt für Rußland und zwar der einzig mögliche. Ihre Voraussage allerdings, daß es zu einer neuen Form der Knechtung der Arbeiterklasse kommen würde, daß das Leninsche Konzepte eines "sozialistischen" Staatskapitalismus faktisch eine Absage an den (angeblich) sozialistischen Charakter der Oktoberrevolution bedeutet – all dies war völlig berechtigt.

Lenin treibt im Mai 1918 in einer Auseinandersetzung mit Bucharin die "linken Kommunisten" in die Ecke, indem er von ihnen konkrete Vorschläge z.B. für die Entwicklung des Eisenbahnwesens anmahnt. Sie machen keine. Sie hätten auch keine anderen machen können, als die dem "normalen" Kapitalismus entlehnte Leninsche Rechnungsführung und Kontrolle, das Erzwingen von Arbeitsdisziplin und Leistung. Die Ausweglosigkeit der linken Kommunisten drückt die damalige Unmöglichkeit des Sozialismus aus. Wie Lenin erkannten sie diese Unmöglichkeit nicht an. Die realen Auswege, die Lenin aus dieser Situation suchte, lehnten sie mit der richtigen Einschätzung ab, daß auf diesem Wege neue Herrschaftsverhältnisse konstituiert werden. Diese klare Sicht konnte jedoch keine gangbare Alternative mit sozialistischem Charakter begründen. Sie mußte damals zum Moralisieren verkommen. So setzte sich Lenin mit einer spezifischen Form der nachholenden kapitalistischen Entwicklung durch, mit dem realistischen Konzept, Rußland einen Anschluß an die europäische Zivilisation zu verschaffen. Diese bedurfte aber eben – in welcher Variante auch immer sie sich realisieren sollte – solcher ökonomischer und politischer Strukturen, die nichts mit Sozialismus zu tun haben. Mehr noch, sie wurde dort, wo eine solche spezifisch real-"sozialistische" gefärbte kapitalistische Entwicklung an ihre zuvilisationsverträglichen Grenzen geriet, zu Barrieren für die dann mögliche sozialistische Entwicklung. Die östlichen Strukturen werden als im Widerspruch zum proklamierten sozialistischen Selbstverständnis stehend erlebt und begriffen, finden keine Verteidiger mehr und implodieren – 1989ff zunächst zugunsten der stärkeren "normal"-kapitalistischen Konkurrenz des Westens. Die wirkliche Aufhebung der nunmehr überfälligen kapitalistischen Strukturen in Ost und West steht noch aus.

9. Konnte Sozialismus verraten werden?

Daß auch die revolutionäre Nachkriegskrise von 1918 bis 1923 im Westen nicht zur Begründung einer sozialistischen Gesellschaft führte, ist nicht in mangelnder Reife des subjektiven Faktors in der Arbeiterbewegung bzw. im sozialdemokratischen Verrat begründet. Das dortige Fehlschlagen sozialistischer Hoffnungen resultierte in letzter Instanz daraus, daß auch im Westen mit der noch bevorstehenden fordistisch-kapitalistischen Epoche erst eine lang anhaltende widersprüchliche ökonomische Entwicklung begann, die nicht zu umgehen war und die sich – wie noch zu zeigen ist – unmöglich unter sozialistischem Vorzeichen entfalten konnte. Hier ist die eigentliche Ursache der Tatsache zu finden, warum der Revisionismus in der einst revolutionären Sozialdemokratie siegte. Die tatsächliche Möglichkeit einer von der proletarischen Bewegung gestützten Regierungsmacht bzw. später die sowjetische Realität vor Augen, kam auch solchen mit Marx bzw. Engels bestens vertrauten Sozialdemokraten wie Eduard Bernstein und den meisten führenden Praktikern alltäglicher sozialdemokratischer Politik das ursprünglich anvisierte sozialistische Endziel abhanden. Unter Bezug auf Marx’ Interpretation der politischen Strukturen der Pariser Kommune als mögliche Formen, unter denen sich die sozialistische ökonomische Umwälzung vollziehen könnte, schrieb Bernstein (hier mit Lenin völlig einig): "Ein Land ... mit modernen Industrieunternehmen und den durch sie geschaffenen wirtschaftlichen sozialen Zusammenhängen, die weit über die Gemeinde hinausgreifen, ist als bloßer Bund unabhängiger Kommunen undenkbar." Damals diese Form der Selbstverwaltung realistischerweise als Weg zum Sozialismus ausschließend, blieb seinerzeit nur die von den Bolschewiki auch gewählte Alternative zur vorherrschenden Form der kapitalistischen Produktionsweise – die staatlich-zentrale Regelung von Produktion. Diese Verstaatlichung Tausender Industriebetriebe lehnte Bernstein jedoch gleichfalls ab, um nicht "die Industrie der Bureaukratisierung auszuliefern und ... das Staatsbeamtentum ins Unbegrenzte" zu vermehren. Bernstein verarbeitet das damalige tatsächliche und zunehmend sichtbare und die sowjetische Geschichte begleitende Dilemma der Sozialisten, weder auf dem einen noch auf dem anderen Wege zum Sozialismus kommen zu können, auf eine die Sozialdemokratie schließlich bestimmende Weise: Er gab den Sozialismusbegriff im Marxschen Sinne faktisch auf und orientierte "nur" auf den Klassenkampf der Arbeiterklasse für zivilisatorischen Fortschritt innerhalb der gegebenen kapitalistischen Grundstrukturen. Ihm und auch den Bluthunden wie Noske vorzuwerfen, sie hätten in der deutschen Novemberrevolution den möglichen Sozialismus verraten, als sie die revolutionäre Arbeiter zusammenschießen ließen, ist Unsinn. Eines solchen Verrates am Sozialismus konnten sie sich noch gar nicht schuldig machen. Als die deutsche Arbeiterbewegung 1918 im notwendig revolutionärem Kampf den Kaiser verjagte, das imperialistische Morden beendete sowie selbstbewußt die verkrusteten bürgerlich-kapitalistischen und feudal-militaristischen Strukturen aufbrach, eröffnete sie aus dem deutschen Kaiserreich heraus einen Weg zu einer partiellen Emanzipation innerhalb der bürgerlichen Epoche. Genau an dieser Wirkung der Novemberrevolution, besser gesagt an ihrer Nachhaltigkeit, die einer selbstbewußten, kämpferischen, ungebrochenen Arbeiterbewegung bedurfte, verübten die Noskes und Scheidemänner Verrat. Die Folgen dieses Verbrechens führen bis in den Faschismus hinein, wie u.a. bei Sebastian Haffner dargestellt.

Wenn die These von den auch im Westen noch nicht vorhandenen ökonomischen Voraussetzungen des Sozialismus stimmt, dann ist die Abkehr aller bisherigen realen östlichen "Sozialismen" vom ursprünglichen allgemeinmenschlichen emanzipatorischen Anspruch des Marxismus nicht primär aus der besonderen ökonomischen und kulturellen Zurückgebliebenheit etwa Rußlands heraus zu verstehen. Dann gab es auch keine etwa aus nationalen Spezifika Rußlands (später Chinas usw.) oder/und aus falschen Theorien irrender bzw. bösartiger Führer usw. ursächlich resultierende sogenannte Entartung des Sozialismus. Der Real-"Sozialismus" ist dann nicht als Sozialismus, sondern als eine Gesellschaftsformation zu bestimmen und zu kritisieren, die die bürgerlich-kapitalistische Epoche noch nicht verlassen hatte.

Für die Erkenntnis sozialistischer Potenzen heutiger emanzipatorischer Bewegungen ist diese Aussage ganz und gar nicht nebensächlich. Denn, wenn es um die Schärfung des heutigen theoretischen Instrumentariums für die Suche nach sozialistischen Auswegen aus der kapitalistischen Barbarei geht, dann ist es wesentlich, von welchem Standpunkt aus die Bewertung der sowjetischen Gesellschaft erfolgt: Wird sie in Beziehung gesetzt zu einer 1917ff angeblich erreichbaren sozialistischen Gesellschaft oder wird sie als eine sich noch unvermeidbar im Rahmen einer antagonistisch-widersprüchlichen vorsozialistischen Gesellschaftsformation vollziehende Entwicklung analysiert. Im ersten Fall könnte sich ein neuer sozialistischer Aufschwung positiv auf Grundstrukturen etwa der real-"sozialistischen" Produktionsweise berufen und unter Vermeidung von politischen Fehlern einen neuen Anfang wagen. Im zweiten dagegen wird der Blick darauf gerichtet, jenseits sowohl der früheren östlichen als auch der westlichen Grundstrukturen (deren Gemeinsamkeiten entdeckend), den Weg zur allgemeinmenschlichen Emanzipation zu suchen. Im ersten Fall erscheint die Wende 1989ff als ein Drama für die sozialistische Bewegung, im zweiten als die Überwindung einer der ersten Barrieren für eine neue sozialistisch-emanzipatorische Bewegung. als die Eröffnung des eigentlichen, international offenen Kampffeldes für einen sozialistischen Umbruch.

Die nach wie vor dominierende Interpretation der Sowjetunion als eine Form von Sozialismus, bedingt und verfestigt dagegen ein Sozialismusbild, das Marx und Engels in frühen Schriften als ideologischer Reflex auf die Unreife der Gesellschaft für die sozialistisch-kommunistische Gesellschaft bestimmten. Spätestens nach der Wende ist es für Bewegungen, die sich als sozialistisch oder kommunistisch bezeichnen, nicht mehr tragisch, sondern eher komisch, wenn sie den früheren Osten als Sozialismus ansehen. Eine Sozialismusauffassung, die den wesentlichen Grundstrukturen des früheren Ostens und der ihn tragenden Bewegungen einen sozialistischen Charakter zubilligt, behindert gerade zu einem Zeitpunkt, da m. E. tatsächlich Voraussetzungen für eine neue Gesellschaftlichkeit entstehen, geistig den Zugang zu heutigen emanzipatorischen Bewegungen. Mit dieser Sozialismusauffassung können heutige Oligarchien bestens leben. Sie stellt für ihre Macht keinerlei Gefährdung sondern ein langsam stumpf werdendes Mittel dar, alte antisowjetische und antikommunistische Ressentiments in Wahlkämpfen und ähnlichen Fraktionskämpfen unter den heutigen Oligarchien wirksam einzusetzen.

10. kapitalistischer Fortschritt gegen proletarische Revolution

Lenin äußerte die Auffassung, daß die kapitalistische Entwicklung im Westen und die damit möglichen zivilisatorischen Fortschritte zu einer weiteren Einbindung des Proletariats in das kapitalistische System führen könnte. Die Revolution "ist um so schwieriger, je zivilisierter, je entwickelter ein Staat ist.

Die geschichtliche Entwicklung hat Lenin hierin bestätigt. Die Logik seiner These, daß die revolutionäre Potenz der Arbeiterbewegung mit dem kapitalistischen Fortschritt sinkt, ist mit folgenden Schlußfolgerungen kompatibel:

Erstens: Die Arbeiterklasse scheidet mit dem fortschreitenden Kapitalismus als revolutionäres Subjekt, das eine sozialistische Gesellschaft begründen könnte, überhaupt aus. Akzeptiere ich dies, halte zugleich am Leninschen Konzept der proletarisch-sozialistischen Revolution fest und gehe dabei weiter von einem Sozialismusbild aus, das in den kapitalistischen Monopolstrukturen bereits die vollständig herausgebildeten ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus sieht, dann hieße das: Im frühen 20. Jahrhundert bestanden die Chancen einer globalen von den Peripherien ausgehenden sozialistischen Revolution. Nachdem die russische Initialzündung von 1917 aber nicht zum weltweiten Umbruch führte, schwanden diese Chancen dann endgültig, weil im Westen das Proletariat mit der weiteren kapitalistischen Entwicklung seine einst revolutionäre Potenz einbüßte. Nachdem also die Revolutionen in den kapitalistischen Metropolen scheiterten und 1989ff nun auch die von der Oktoberrevolution ins Leben gesetzten östlichen Ordnungen zusammenbrachen, wäre somit heute ein an die Arbeiterbewegung gebundener Sozialismus überhaupt kein erreichbares Ziel mehr.

Zweitens: Eine weitere mögliche Interpretation geht gleichfalls von Lenins These aus, daß mit dem kapitalistischen Fortschritt die revolutionären Potenzen der Arbeiterklasse schwinden. Sie bestätigt zugleich die Marxsche Auffassung, daß erst die Errungenschaften eines hochentwickelten Kapitalismus die internationalen Voraussetzungen eines erfolgreichen sozialistischen Umbruchs bieten, daß eine Gesellschaftsformation nie untergeht, "bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist" und daß "neue höhere Produktionsverhältnisse ... nie an die Stelle [treten], bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind." Die Konsequenz dessen lautet: Die durch proletarische Revolutionen tatsächlich schaffbaren Gesellschaften können und konnten überhaupt keine sozialistischen sein, weder 1917 noch später. An der zivilisationssichernden Notwendigkeit und Möglichkeit des Sozialismus festzuhalten, hieße dann, die sozialistisch-revolutionäre Potenz nicht mehr innerhalb der Arbeiterbewegung zu suchen.

Meine dementsprechende These lautet: Die revolutionären Umwälzungen im Gefolge der Oktoberrevolution waren keine sozialistischen, sondern Entwicklungsrevolutionen innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Epoche. Sie konnten keinen Sozialismus begründen, sondern trieben international und national in einer spezifischen Form die kapitalistische Entwicklung selbst voran.

Diese tatsächliche Leistung war bzw. ist aus mindestens zwei Gründen achtenswert und auch über lange Zeit verteidigungswürdig: Es wurde in den Sowjetgesellschaften und international noch im Rahmen der bürgerlichen Epoche auf widersprüchliche Weise die menschliche Zivilisation gefördert und es entstanden zugleich die Voraussetzungen für ein später mögliches erfolgreiches Ringen um eine sozialistische Zukunft.

Trotz Lenins Realismus bezüglich der revolutionären Potenz Arbeiterklasse im entwickelten Kapitalismus bestand auch nach dem Scheitern der deutschen Novemberrevolution (das Scheitern ist hier gemessen an der Annahme, sie könnte eine sozialistische sein) weiterhin Hoffnung auf die sozialistische Weltrevolution. Das lief auf die Forderung nach einem (rechtzeitigen) Revolutionsexport hinaus, was von Stalin und seinen Nachfolgern im Rahmen der Möglichkeiten auch praktiziert wurde. Lenins Revolutionspessimismus bestätigend, verzweifelt auch Rosa Luxemburg geradezu daran, daß sich die starke deutsche Arbeiterklasse scheute, ihre revolutionären Potenzen im Sinne der ihr zugedachten selbstbefreienden sozialistischen Mission zu gebrauchen. "Die Bedingungen des Kampfes um die Macht sind so günstig wie noch für keine aufstrebende Klasse in der Weltgeschichte," schreibt sie Ende 1917. Die Macht kann "wie eine reife Frucht dem Proletariat in den Schoß fallen." Doch die "Arbeiterklasse sträubt sich, sie schreckt immer wieder vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer Aufgabe zurück. Aber sie muß, sie muß." Luxemburg setzt trotz aller Differenzen mit Lenin letztlich wie er auf Aufklärung des angeblich noch zu ungebildeten, sich deshalb seiner Interessen unbewußten Proletariats und auf die Führung durch die revolutionäre Partei: "Die Schwierigkeit liegt im Proletariat selbst, in seiner Unreife, vielmehr in der Unreife seiner Führer, der sozialistischen Parteien." Das ist tragisch auch deshalb, weil genau in dieser Logik jene Herrschaftszwänge lagen, denen sich die Bolschewiki in der bekannten Weise stellten und die Luxemburg zu recht als antiemanzipatorisch kritisierte.

Wie die später Geborenen wissen, hatte Luxemburg mit ihrem "sie muß, sie muß" unrecht. Weder die erhoffte Aufklärung der Arbeiterklasse im sozialistisch-kommunistischen Sinne noch ihre zielbewußten Führer konnten bewirken, daß die Arbeiterklasse einen Sozialismus begründete. Die "unbestimmte Ungeheuerlichkeit ihrer Aufgabe" lag offensichtlich auch nicht darin, eine sozialistisch-historische Mission zu erfüllen. Wo sie im Westen seit dem November tatsächlich 1918 revolutionär agierte, bewirkte die Arbeiterklasse nicht Sozialismus, sondern eine neue Dynamik des Kapitalismus und wenigstens vorübergehend dessen bürgerlich-begrenzte Zivilisierung – eine Leistung, an der eher Luxemburg als Revolutionärin mit all ihren Illusionen als die anpassenden Realismen Bernsteins einen achtenswerten Anteil hatte.

11. Sozialistische Weltrevolution und die Lust am kapitalistischen Fortschritt

Lenin selbst konnte aus seiner berechtigten Auffassung, daß mit der fortschreitenden kapitalistischen Entwicklung die revolutionäre Potenz der Arbeiterklasse abnimmt, die oben genannten weitgehenden Konsequenzen nicht ziehen. Es ging ihm eher um das Verständnis für den zunehmenden Reformismus in der Arbeiterbewegung in den im Verhältnis zu Rußland bereits entwickelteren kapitalistischen Ländern. Als Revolutionär hatte er vorrangig die tatsächlich barbarischen Seiten der, wie er irrtümlich glaubte, sich international dem Ende nähernden kapitalistischen Entwicklung im Auge. Mit dem Übergang der kapitalistischen Produktionsweise in ihr monopolistisches Stadium ging für Lenin der Kapitalismus in sein faulendes, parasitäres, sterbendes Stadium über, das keinem zivilisatorischem Fortschritt mehr Raum geben würde. Das (Staats-)Monopol als die vollständig ausgeprägte materielle Voraussetzung für eine sozialistische Produktionsweise interpretierend war er konsequenterweise voll auf das Erkennen möglicher Kristallisationspunkte für die Revolutionierung der Unterdrückten orientiert und auf die Organisation des politischen Umbruchs. Mit dieser engen Sicht auf den Kapitalismus als einer der antagonistischen "progressiven Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformationen" (Marx) , mit einer dementsprechenden historisierenden Lektüre des Kapitals (dies wird vorrangig "als die Nachzeichnung der historischen Genesis der kapitalistischen Produktionsweise" begriffen ) ist Lenin von der Marxschen Begierde weit entfernt, die jeweils neueste Entwicklung der kapitalistischen Produktionsformen theoretisch umfassend auszuwerten, die Arbeit am Kapital immer für unabgeschlossen zu halten. Jede von ihm selbst erlebte und voraussehbare neue Entwicklungsstufe des Kapitalismus war für Marx jeweils Anlaß, die bisherigen Erkenntnisse über die innere Logik der kapitalistischen Produktionsweise neu zu überprüfen. Krisen und kapitalistische Entwicklungsblokaden waren ihm nicht nur als mögliche Ausgangspunkte für revolutionäre Erhebungen und für Schlußfolgerungen bezüglich der politischen Organisation der Arbeiterklasse interessant – wie dies vorrangig bei Lenin zu finden ist. In dem Maße, wie Marx die inneren Gesetzmäßigkeiten seines sich entwickelnden Forschungsgegenstandes, der kapitalistischen Produktionsweise, eindrang, die Dimensionen ihrer noch möglichen Entwicklungen (dies eben immer auch unter dem Gesichtspunkt der Voraussetzung für eine sozialistische Umwälzung) theoretisch faßte, studierte Marx gerade ökonomische Krisen und ihre jeweils partiellen Lösungen als Ausgangspunkte neuer und zwar auch wesentlicher Entwicklungen des Kapitalismus selbst. Jeder große wissenschaftlich-technische Fortschritt war ihm Anlaß zum Jubel. Mit deren Nutzung auch in der widersprüchlichen kapitalistisch-barbarischen Form entfalteten sich die produktiven Kräfte der Menschen, die, wenn sie nicht mehr der Not und äußeren Zweckmäßigkeit als Triebkraft ihrer Entwicklung bedürfen, also von den kapitalistischen Verhältnissen befreit, von den assoziierten Menschen unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle gebracht, der freien Entfaltung der Individuen als angemessene Grundlage wirken können.

Das Erfassen qualitativ bestimmter Umbrüche in den Arbeitsbedingungen, zu denen die kapitalistische Entwicklung drängt, war für Marx – wie wir noch sehen werden – ein entscheidender Punkt für die Bestimmung genau der Sollbruchstelle, von der an revolutionäre Umwälzungen in der Produktionsweise erst einen sozialistischen Charakter gewinnen können. Die Marxsche Lust am theoretischen Durchdringen des Umsetzens von wissenschaftlich technischen Entdeckungen in der Produktion und deren Wirkungen auf die Arbeitsbedingungen sowie am gedanklichen Brückenschlag zwischen den sich damit ändernden kapitalistischen Produktionsformen und den entsprechenden möglichen Grundzügen einer sozialistischen Gesellschaft mußte und muß dagegen für einen Sozialisten gegenstandslos sein, der wie Lenin davon ausging, daß die hinreichenden ökonomischen Voraussetzungen für eine sozialistische Produktionsweise schon längst gegeben sind.

Der Zusammenhang zwischen dem Kapitalismusverständnis und dem Sozialismusbild wird hier offenkundig. Lenin ist zum Beispiel überzeugt, daß der Kapitalismus die Rechnungsführung und die Kontrolle über die Produktion bereits "bis zum äußersten vereinfacht, in außergewöhnlich einfache Operationen verwandelt" hat, daß es zu ihrer Ausführung genüge, die vier Grundrechenarten zu beherrschen, daß also nach der Revolution "alle der Reihe nach regieren" und die Wirtschaft leicht kontrollieren können. Bei einem solchen Verständnis für den Kapitalismus und den Sozialismus kommt es für den Sozialisten nur noch darauf an, die Menschen geistig und organisatorisch dem Einfluß des Bürgertums und seiner Ideologie zu entreißen. Nach diesem Verständnis mußte die anstehende Revolution, wenn ihre Dynamik von den Interessen der Arbeiterklasse geprägt würde, eine sozialistische werden. "Dann steigt aus den Trümmern der alten Gesellschaft die sozialistische Weltrepublik!" Anders als in Erich Weinerts Text "Der heimliche Aufmarsch" (Musik Hanns Eisler) war es in diesem Weltbild nicht denkbar – die bereits vollständig vorhandenen Elemente einer neuen Welt brauchten nur revolutionär durch Vernichten der Kapitalistenklasse befreit werden, um zu konstituierenden Elementen der neuen Gesellschaft zu werden.

Vor der Revolution werden etwa die barbarischen Folgen der Entwicklung der großen Maschinerie für die Arbeitsbedingungen genutzt, um die revolutionäre Stimmung der Lohnarbeiter zu fördern. Die Folgen der gleichen Maschinerie auf die Lage der Lohnarbeiter aber werden nach einer erfolgreichen Revolution, also unter einer neuen Führung als von einer ganz anderen Wesensart bestimmt angesehen.

Wer zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen historischen Standort als den der praktisch-revolutionär beginnenden Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus ansieht, muß sein Sozialismusbild den im Kapitalismus gegebenen ökonomischen und anderen Strukturen anpassen, muß Analogien etwa zwischen den westlichen staatsmonopolistischen und den als sozialistisch verstandenen und angestrebten staatlich-zentralistischen Wirtschaftsstrukturen ziehen. Um von einem zum anderen zu kommen, im Leninschen Selbstverständnis, die Welt aus den Angeln zu heben, bedarf es, gestützt auf die ungeheuerlichen Antagonismen der kapitalistischen Entwicklung (im Falle Rußlands zugleich einer durch feudale Verkrustungen gebremsten Kapitalisierung) und die dementsprechenden sozialen Konflikte, dann nur noch einer starken revolutionären Organisation. Auf deren Schaffung konzentrierte sich Lenin äußerst erfolgreich und dabei galt ihm konsequenterweise Napoleons Leitspruch: "Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, das weitere wird sich finden." Denn, ist man erfolgreich, so kann nach dem Sturz der politischen Stütze des sich international bereits in Agonie befindlichen Kapitalismus nur noch der Sozialismus kommen.

Daß sich in einer erfolgreichen Revolution das östliche Proletariat letztlich "nur" einen Zugang zu solchen zivilisatorischen Errungenschaften erkämpfte, über die die westlichen Klassenbrüder bereits verfügten bzw. die sie sich auch innerhalb ihres Systems erkämpfen konnten, daß die Vorzüge des Ostens wie die Vollbeschäftigung bzw. die weitgehende soziale Sicherheit durch Einschränkungen der persönlichen Freiheit bzw. mit einer relativ bescheidenen materiellen Lage "erkauft" wurden, das sind auch Gründe dafür, daß die Entwicklung des Ostens, nachdem dessen Möglichkeiten und Grenzen offenkundig wurden, letztlich nicht revolutionierend auf die westliche Arbeiterbewegung im Westen wirkte. Der östlichen Arbeiterbewegung und dem Real-"Sozialismus" waren in ihrer bemerkenswerten und notwendig widersprüchlichen zivilisatorischen Entwicklung keine solchen dauerhaften Errungenschaften zugänglich, die für die Mehrzahl der Menschen in den westlichen Metropolen einen erstrebenswerten Fortschritt gebracht hätte. Ein revolutionierender Einfluß auf den Westen hätte eines qualitativ über den entwickelten Kapitalismus hinausgehenden massenhaft überzeugenden Vorbildes in der Lebens- und Produktionsweise bedurft. Das konnte der Osten letztlich nicht bieten. Was das Lebensniveau und den Lebensstil der Menschen betraf, so entfaltete sich letztlich im Osten nicht das ganz andere sozialistische Leben. Es ging gegenüber dem westlichen Kapitalismus eher um ein teilweise erfolgreiches Auf- und ein letztlich erfolgloses – angesichts der kapitalistischen Entwicklung gegen Ende des 20. Jahrhunderts für die menschliche Zivilisation auch gar nicht wünschenswertes – Überholen. Als letzteres klar wurde, hatte der östliche "Sozialismus" auch seinen zivilisationsfördernden Sinn verloren.

12. Über sich "keine Macht außer der ihrer eigenen Vereinigung" dulden

Nach der Revolution zeichnet sich Lenin etwa im Gegensatz zu Stalin (so wie auch viele Sozialdemokraten etwa im Unterschied zu Noske) dadurch als Sozialist aus, daß er die sofort bedrohlichen antiemanzipatorischen Konsequenzen des bolschewistisch geführten Staatskapitalismus eindämmen will, die Einschränkung der erkämpften Freiheiten auf dem Weg zum Sozialismus nur als vorübergehend ansieht. Er sucht intensiv nach Mitteln, die erneute knechtende Unterordnung der Arbeiterklasse unter eine neue Autorität, die er andererseits realistischerweise erzwingen muß, aufzuhalten. Dem sich entfaltenden Bürokratismus und Dogmatismus, der Rekonstruktion von Herr- und Knechtschaftsbeziehungen in der Produktion, also der Entwicklung einer neuen Klassenherrschaft, glaubte er mit Korrekturinstitutionen wie den Gewerkschaften, der Arbeiter- und Bauerninspektion und durch die uneigennützige Arbeit der Kommunisten sowie durch die forcierte Entwicklung von Kultur und Bildung entgegenwirken zu können.

Lenin beschreibt die angestrebte neue "gesellschaftliche Bindung" als die "Disziplin bewußter und vereint arbeitender Menschen, die über sich keine Gewalt kennen und keine Macht außer der Macht ihrer eigenen Vereinigung, ihrer eigenen bewußteren, kühnen, festgefügten, revolutionären, standhaften Avantgarde." In diesem "Keine-Macht-außer" liegt die Problematik der weiteren Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft. Genauer gesagt, das Problem liegt in der Richtung, in der diese Macht sich entwickelt: insofern sie im Abwehrkampf gegenüber den Restaurationsversuchen der alten feudalen bzw. bürgerlichen Oligarchien wieder eine staatliche Form annahm im Maße der Entfaltung der neuen Gesellschaft auf ihren eigenen Grundlagen in die Richtung des tatsächlichen Absterbens des Staates oder aber im Maße der Festigung der Sowjetgesellschaft und des Sieges über die alten Oligarchien in einer ungeheuren Entfaltung der Staatlichkeit als erneute Herrschaft etwa über die Masse der Werktätigen. Im letzteren Fall ist diese "Keine-Macht-außer" nicht eine die freie Entwicklung der Individuen fördernde Kraft der eigenen Assoziationen. Es ist vielmehr die Macht der gerade von den Werktätigen geschaffenen, jedoch entfremdeten, sie in knechtender Abhängigkeit haltenden Produkte. Diese Staatsmacht ist keine sozialistische und sie kann auch keine werden. Im entwickelten westlichen, sich auf seiner eigenen Basis bewegenden Kapitalismus, insbesondere im funktionierenden fordistischen, haben die Lohnarbeiter in der Produktion auch keine Gewalt über sich, außer der der von ihnen selbst produzierten, entfremdeten Macht, der des Kapitals bzw. der der Kapitalakkumulation förderlichen staatlichen Regulierungen. Gerade das unterscheidet die kapitalistischen u.a. von den feudalen Verhältnissen. Einen sozialistischen Charakter kann aber nur eine Revolution annehmen, wenn sie eine "Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft" ist, eine Revolution, die nicht "eine Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andre" überträgt, sondern sie aufhebt. Dies ist auf der Basis jeglicher Produktion unmöglich, in der Leitung und Kontrolle der Produktion einer vom unmittelbaren Produzenten getrennten Macht zufallen. Die unmittelbaren Produzenten einerseits sowie andererseits die Kontrolleure und Dirigenten der Produktion (letztere verfügen notwendigerweise über die materiellen Produktionsmittel und die hergestellten Produkte), stehen hier in unauflösbaren Widersprüchen zueinander. Diese Produktionsweise bedarf nicht nur des stummen Zwangs der Ökonomie, das die Lohnarbeiter zur Arbeit zwingt, wenn sie ihre materiellen Interessen befriedigen wollen. Sie bedarf auch der Staatsmacht im Sinne eines gesetzlich oder/und auch unmittelbar terroristisch eingesetzten regelnden Gewaltmonopols. Sie erfordert einen Staat, der zugleich auch zahlreiche notwendige allgemeine gesellschaftliche Funktionen (große technische Infrastruktur, Schaffung entsprechender großer Kapitale, Bildung, andere soziale Leistungen) reguliert oder übernimmt. Der Zwang, die Industrialisierung voranzutreiben, zog auch für die Sowjetgesellschaft notwendig den Zwang zur Schaffung einer starken, von den unmittelbaren Produzenten selbst nicht beherrschbaren Macht nach sich. Unter diesen Bedingungen schlossen sich die Industrialisierung (die Existenzbedingung jeglichen selbständigen Staates im 20. Jahrhunderts) und eine Entwicklung in Richtung Sozialismus/Kommunismus aus.

Der isoliert gebliebenen Sowjetunion gelang es tatsächlich, eine industrielle Großproduktion aufzubauen und die dafür unumgänglichen kulturellen Voraussetzungen zu schaffen. Im zweiten Weltkrieg verteidigte sie zugleich sich und die internationale Zivilisation gegenüber der barbarischsten westlichen Form der staatlich abgesicherten und geförderten Kapitalakkumulation, der faschistischen, erfolgreich. All dies ist auch aus heutiger Sicht als ein "russisches Wunder" zu würdigen, allerdings eben nicht als ein sozialistisches.

Daß die sowjetische Gesellschaft keine sozialistische war, wird häufig mit dem Verweis auf die zum Teil besonders barbarischen Mittel der Industrialisierung begründet. Zahlreiche große Industrieobjekte wurden mittels des GULAG-Systems errichtet und betrieben. Was bei Marx über die schweiß- und bluttriefende Geburt des Kapitalismus zu lesen ist, die Rolle "gewaltsamer Methoden" in der "Expropriation der unmittelbaren Produzenten, d.h. die Auflösung des auf eigner Arbeit beruhenden Privateigentums" , das mit Terror verbundene Brechen mit vorkapitalistischen Strukturen und Mentalitäten der zu Lohnarbeitern zuzurichtenden Menschen, all das trifft tatsächlich zu Teilen auch auf die sowjetische Industrialisierung zu. Mit dem dortigen Einsatz "außerökonomischer, unmittelbarer Gewalt" wird dieser im vorrevolutionären Rußland begonnene Prozeß der Zersetzung der alten Verhältnisse erheblich beschleunigt. Nachdem eine große Arbeiterklasse entstanden ist, die wie im Westen Jahrhunderte zuvor zunehmend "aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit, die Anforderungen" der gewerblichen Produktion "als selbstverständliche Naturgesetze" anerkannte, konnte auch in der großen sowjetischen Industrie "der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse" mehr zur Geltung kommen. So verliert in den letzten Jahrzehnten der Sowjetgesellschaft die spezifische stalinistische Form der kapitalistischen Akkumulation langsam an Bedeutung. Es folgen in der gesamten "sozialistischen" Staatengemeinschaft seit den 1960er Jahren wiederholt Reformen, um die Kategorien der kapitalistischen Warenproduktion mehr zur Geltung zu bringen – die faktische Vorbereitung auf die 1989ff erfolgte offene Anerkennung des tatsächlichen Charakters der Produktionsweise und – gerade in der ehemaligen Sowjetunion – des entsprechenden Outens zahlreicher "sozialistischer" Funktionäre als ganz normale Kapitalisten.

Bezüglich der stalinistischen staatlichen Gewalt halten wir fest, daß dies natürlich ein untrügliches Indiz des nichtsozialistischen Charakters der Sowjetgesellschaft ist. Daß der Kern der nichtsozialistischen Sache damit aber noch nicht erfaßt ist, zeigt sich gerade im Prozeß der Rücknahme der offenen staatlichen Gewalt – eben weil deren Funktion gegenüber den unmittelbaren Produzenten wie im entfalteteren, auf seinen eigenen Grundlagen beruhenden Kapitalismus mehr durch den stummen Zwang der von den Produzenten bzw. ihren Assoziationen selbst nicht beherrschten ökonomischen Verhältnisse übernommen wird. Die Verhältnisse werden gerade nach dem Zurücknehmen der schärfsten Formen stalinistischer Gewalt nicht sozialistischer, sondern entfalten eher ihr kapitalistisches Wesen. Dementsprechend ist der verbreitete Versuch völlig irreführend, die sozialistische Idee etwa dadurch von den Belastungen des Stalinismus zu reinigen, indem man sich etwa die DDR als eine Gesellschaft mit einer aufblühenden fordistischen Produktion ohne das im Verhältnis zu einigen westlichen Ländern offenere Bekenntnis zur staatlichen Gewalt als eine zukunftsfähige anstrebenswerte Ordnung zusammenreimt und von diesem Standpunkt aus angeblich verpaßten sozialistischen Chancen nachspürt. Dies begründet eher eine rückwärtsgewandte also kapitalkonforme Kritik am Kapitalismus als daß die inzwischen tatsächliche entstandenen Chancen einer sozialistischen Entwicklung überhaupt erkennbar werden. Öffentliche Kritik an dieser Auffassung – der Osten sei an verfehlter Politik der herrschenden Klasse oder Kaste gescheitert, habe aber über eine im wesentlichen sozialistische ökonomischen Grundlage verfügt (die Umkehrung der Leninschen Annahme, daß eine proletarisch-sozialistische Staatsmacht der staatskapitalistischen Basis einen sozialistischen Charakter verleihe) – ist dringend nötig. Den inneren Zusammenhang zwischen der "sozialistischen" Politik und den ökonomischen Erfordernissen zu verstehen und eines nicht ohne das andere zu kritisieren, also unbegriffen zu denunzieren oder zu verherrlichen, führt m. E. zum Kern der Frage nach dem sozialistischen oder nichtsozialistschen Charakter der Oktoberrevolution und damit zu den möglichen Charakteristika zukünftiger sozialistischer Bewegungen.

Es hat nichts mit Selbstverwaltung der Produzenten, nach Marx ein unverzichtbares Element einer sozialistischen Umwälzung, nichts mit dem Abbau des Staates zu tun, wenn Zukunft theoretisch und praktisch mit dem Beamtenapparat etwa der deutschen Post, den hierarchischen Strukturen des Monopols in Verbindung gebracht wird. Genau dies tat jedoch Lenin und dieses Phänomens ist sowohl als realistisch im Sinne des möglichen historischen Fortschritts zu würdigen als auch als nichtsozialistisch zu kritisieren.

13. Wo ist die Bruchstelle?

Marx bzw. Engels haben, wie in Bezug auf ersteren bereits gezeigt, durchaus auch Anlaß gegeben für Lenins enge Sicht auf die ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus. In anderen Zusammenhängen als in Bezug auf die möglichen sozialistischen Potenzen der russischen Mir, auf die historische Tendenz der kapitalistischen Akkumulation oder auf das Monopol bzw. das Aktienkapital bestimmt Marx politökonomisch exakt eine weitere, zu seiner und Lenins Zeit noch in der Ferne liegende Bruchstelle für den revolutionären Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus-Kommunismus. Es geht um denjenigen Punkt in der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, von dem an die Individuen selbst innerhalb der Produktion erst jene Stellung einnehmen können, die es ihnen überhaupt erst ermöglicht, eine höhere "Gesellschaftsform bilden [zu] können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist." Diese Sicht auf die in den jeweiligen konkreten Produktionsformen mögliche Individualität der unmittelbaren Produzenten eröffnet in Verbindung mit Marx’ politökonomischen Bestimmungen von kapitalistischem Eigentum, der konkreten knechtenden Formen der kapitalistischen Arbeitsteilung, der formellen und reellen Subsumtion der Produzenten unters Kapital einen anderen Blick auf die für den Sozialismus hinreichende Reife der kapitalistischen Produktionsweise als dies bei Lenin der Fall ist. Es werden andere als die von Lenin hervorgehobenen Voraussetzungen dafür gesehen, daß die in emanzipatorischen Bewegungen assoziierten Individuen überhaupt eine sozialistische Form von Lebensweise und Produktion begründen können.

Für Lenin führte der von kapitalistischer Herrschaft gereinigte Monopolkapitalismus bzw. der unter der proletarischen Staatsmacht angewandte Fordismus-Taylorismus direkt in den Sozialismus. Theoretisch und agitatorisch werden dabei die tatsächlich möglichen zivilisationsfördernden Potenzen des Fordismus-Taylorismus und des Monopols von deren barbarischen Seiten getrennt: die üblen Seiten den westlich-kapitalistischen Produktionsformen zugeordnet, die menschlichen Möglichkeiten den sowjetischen. In Lenins historischer Situation zu Beginn der großen imperialistischen Kriege erscheint die Alternative Sozialismus oder Barbarei für viele leidende Menschen plausibel. Es ist noch nicht denkbar, daß eine sozialistische Form der Zivilisation erst mit der Aufhebung der gerade beginnenden fordistischen Vergesellschaftung und des sich erst noch entfaltenden Monopolisierungsprozesse selbst möglich wird. Obwohl Marx diesen noch in der Zukunft liegenden Punkt bereits theoretisch klar bestimmt hatte, war es jedoch unmöglich, daß ein solcher Gedanke, der einen erfolgreichen Kampf für den Sozialismus noch für eine ganze Epoche als utopisch bestimmt, massenhaft Eingang in eine soziale Bewegung finden konnte. Das war nicht nur bzw. vorrangig eine Frage der Zugänglichkeit etwa zu Marx Grundrissen, sondern eher eben eine Konsequenz derjenigen Wirklichkeit, die die Menschen noch nicht zu dementsprechenden Marxschen Gedanken drängte. Ein in Bezug auf den Sozialismus ernüchternder Gedanke konnte seinerzeit im Kampf der Arbeiterklasse für die tatsächlich möglichen zivilisatorischen Fortschritte nur demoralisierend wirken. Anders sieht die Sache aus, wenn die von Marx theoretisch vorausgesagten ökonomischen Bedingungen eines erfolgreichen sozialistischen Umbruchs entstanden sind und demzufolge massenhaft erlebbar werden. Wie in der vorhergehenden Geschichte Forderungen progressiver Bewegungen wiederholt in religiöser, utopischer Form Masseneinfluß erlangten, so konnte auch die Arbeiterbewegung in ihrem Ringen um einen Zugang zu den zivilisatorischen Möglichkeiten des Fordismus-Taylorismus und des Monopolisierungsprozesses auf die Motivation einer utopischen Sozialismusvorstellung, die wesentliche Punkte der Marxschen Theorie ignorierte bzw. sie in einer den realen Verhältnissen entsprechenden utopischen Weise uminterpretierte, nicht verzichten. Die tatsächliche Rolle des proletarischen Kampfes für die eine mögliche zivilisationsverträgliche tayloristisch-fordistische Entwicklung noch innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Epoche und damit die Begrenztheit der proletarischen Bewegung geriet so nicht bzw. nur selten ins Blickfeld.

14. Das Taylorsystem – Knechtung des Arbeiters statt Basis "sozialistischer" Produktion

1913/14 prangert Lenin in zwei Artikeln den Taylorismus als ein für den Kapitalismus charakteristisches "Werkzeuge zur weiteren Knechtung des Arbeiters", zur "Schweißauspressung nach allen Regeln der Wissenschaft" an. Im Februar 1918 jedoch, inzwischen praktisch vor die Frage nach der konkreten Form der alltäglichen Reproduktion gestellt, fordert er zur Hebung der "Arbeitsdisziplin ... den Stücklohn, die Anwendung von vielem, was an Wissenschaftlichem und Fortschrittlichem im Taylorsystem enthalten ist, die Abstimmung des Verdienstes mit den Gesamtergebnissen der Produktionsleistung bzw. mit dem Betriebsertrag ... praktisch" anzuwenden. Dieses letzte Wort des Kapitalismus vereinige in sich "die raffinierte Bestialität der bürgerlichen Ausbeutung und eine Reihe wertvollster wissenschaftlicher Errungenschaften in der Analyse der mechanischen Bewegungen bei der Arbeit, der Ausschaltung überflüssiger und ungeschickter Bewegungen, der Ausarbeitung der richtigsten Arbeitsmethoden, der Einführung der besten Systeme der Rechnungsführung und Kontrolle usw. ...". Nach dem nachrevolutionären Lenin erfordern "die Besonderheiten der Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus die sozialistische Organisation des Wettbewerbs [und] ... die Anwendung von Zwang ... damit die Losung der Diktatur des Proletariats nicht beschmutzt werde durch die Praxis eines breiartigen Zustands der proletarischen Macht". Widerstand dagegen, der sich aus der absehbaren Rekonstruktion von knechtenden Formen der Arbeitsteilung, als Reaktion auf die "raffinierte Bestialität der ... Ausbeutung" und deren Konsequenzen ergibt, wird als kleinbürgerlich bekämpft. Die Arbeiterklasse werde – so Lenins berechtigte Hoffnung – ihre Fähigkeit zur Disziplin, zur Unterordnung genau unter dieses System, unter die damit verbundene uneingeschränkte Autorität des "sozialistischen" Leiters auf alle Produzenten übertragen. Die in großer Geschwindigkeit proletarisierten Schichten werden so ähnlich dem Prozeß der westlichen ursprünglichen Akkumulation durch drastische Strafen – es sei hier bereits auf die literarische Darstellung dessen in Rybakows "Kinder vom Arbat" verwiesen –, durch Erziehung und schließlich Gewohnheit massenhaft sozusagen im historischen Schnelldurchlauf dazu gebracht, die Anforderungen der modernen Produktionsweise "als selbstverständliche Naturgesetze" anzuerkennen. "Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses", so schrieb Marx, "bricht jeden Widerstand" . Die Erziehung durch den tayloristisch organisierten Produktionsprozeß ist gerade hierzu tatsächlich ein ausgezeichnetes Instrument.

Die zuvor richtigerweise als kapitalistisch definierte tayloristische Barbarei wird in der Sowjetgesellschaft als Bedingung zivilisatorischen Fortschritts unter sozialistischem Vorzeichen vorangetrieben. Dieser offenkundige Widerspruch ist nicht Ausdruck von Dummheit oder Charakterlosigkeit. Es handelt sich schlicht darum, daß die Antagonismen, die für vorsozialistische Produktionsweisen charakteristischen sind, noch nicht verlassen werden konnten. Wenn Lenin vor der Revolution der Empörung von Arbeitern über die neuen sklavischen Formen ihrer Subsumtion unter Maschinerie und Kapital Ausdruck verleiht, die in Rußland noch nicht so wie im Westen verbreitete Akzeptanz der Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise "als selbstverständliches Naturgesetz" als Revolutionschance nutzt, also gestützt auf die Widersprüche eines noch unzureichend durchgesetzten Kapitalismus die Revolutionierung der Massen befördert, so spricht er nach der Revolution mit der Bejahung des Taylorismus eine unumgängliche Wahrheit des überschauberen weiteren zivilisatorischen Fortschreitens in Ost und West aus. Es ist die Tatsache, daß dieser Fortschritt auch weiterhin nur einen widersprüchlich-barbarischen, also noch nicht sozialistischen, noch nicht allgemein-emanzipatorischen Charakter tragen kann. Daß sich Lenin – zunächst öfter gegen seine eigenen Genossen – mit seinem Konzept durchsetzte, dann resultiert dies eben daraus, daß der Zwang zur fordistischen Form der Produktion als Bedingung des Fortschritts und zugleich als Voraussetzung des Überlebens Sowjetrußlands im Kampf mit der sonstigen kapitalistischen Welt massenhaft erfahrbar war. Alle Versuche, dem Fordismus und damit seinen negativen Konsequenzen auszuweichen und auf unzureichender Ebene die Formen einer unmittelbaren Vergesellschaftung zu schaffen (der größte lief im China mit der Kulturrevolution), scheiterten und wurden aufgegeben.

Wenn die Auffassung, daß ein sozialistischer Fordismus unmöglich sei, als Ausdruck eines ökonomistischen Automatismus interpretiert wird, dann wird häufig auch angenommen, hiermit sei die Behauptung verbunden, es hätte keine Alternativen zur konkreten sowjetischen Entwicklung gegeben, die GULAGs seien also als die unumgängliche Folge der Oktoberrevolution aufzufassen. Was ich dagegen behaupte, ist zunächst lediglich dies: Die Sowjetgesellschaften, die aus Gründen des Existenzerhaltes und der Teilhabe am bürgerlich-zivilisatorischen Fortschritts zur Entwicklung einer fordistischen Produktion gezwungen waren, hatten überhaupt keine Chance, eine sozialistische Produktionsweise zu errichten. Innerhalb dieser Grenze gab es ansonsten unendlich viele, von den sozialen Bewegungen und den jeweiligen Führern maßgebend beeinflußbare Varianten der Entwicklung.

15. Auch im Westen – Hoffnung auf den sozialistischen Ford

1925 problematisierte der deutsche Kommunist Jacob Walcher ebenso wie Lenin vor der Oktoberrevolution die fordistische Arbeitsmethode. Er verweist auf "die Verkümmerung der Teilarbeiter in den Fordbetrieben selbst". 90% der Arbeiter, so erklärt er, werden "in den untergeordneten Teil eines Automaten" verwandelt. Mittels der Fordtechnologie habe "der Mechanismus den Lohnarbeiter mehr in seiner Gewalt ... als je ein Sklavenaufseher seine Sklaven". Die Konsequenz dieser Einsicht lautet nicht etwa, daß, wo Fordismus herrscht, (noch) kein Sozialismus existieren kann. Im Gegenteil. Auch Walcher hält den Fordismus, die auf die Spitze getriebene reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, mit Sozialismus bzw. Kommunismus für vereinbar. Jedenfalls ist für ihn Sowjetrußland "das einzige Land der Welt ..., wo sich die Methoden Fords tatsächlich nach jeder Seite hin als nützlich erweisen werden". Auf allgemeine Wohlstandsvisionen Fords eingehend, meint Walcher: "Ford nimmt den Kapitalismus als unverrückbare Voraussetzung und zieht daraus seelenruhig Schlußfolgerungen, die wie die Faust aufs Auge passen, die allerdings dann zutreffen würden, wenn nicht Kapitalismus, sondern der Kommunismus Wirklichkeit wäre."

Wie ist es möglich, daß der Fordismus-Taylorismus, eine charakteristisch kapitalistisch-barbarische Form der Produktivitäts- und Profitsteigerung, auch im Westen nicht nur massenweise mit Sozialismus für vereinbar gehalten, sondern wie bei Walcher als eine in ihrer zivilisatorischen Potenz eigentlich dem Sozialismus entsprechende Form des Produzierens angesehen wurde? Einmal beruht das auf dem Vertrauen vieler Proletarier in das "Vaterland der Werktätigen" und auf der Überzeugung, daß die Sowjetunion, die erklärtermaßen die fordistische Industrialisierung betrieb, tatsächlich den Sozialismus aufbaut. Die massenhafte Fehleinschätzung des Fordismus als eine dem Sozialismus angemessene Produktionsweise jedoch vorrangig auf eine falsche Interpretation der sowjetischen Verhältnisse zurückzuführen, greift wie jede derartiges Verständnis von Ideologie zu kurz. Damit bliebe auch unverständlich, daß diejenigen Teile der sozialistischen Bewegung, wie etwa die Anarchisten, die sehr frühzeitig den sozialistischen Charakter der Sowjetunion bezweifelten, in ihrem Aufklärungsbestreben in der internationalen (revolutionären) Arbeiterbewegung hoffnungslos in die Isolierung gerieten.

Es sind andere Zusammenhänge, die insbesondere für Proletarier, aber auch für Teile des Managements eine Wesensverbindung zwischen Fordismus und Sozialismus plausibel machen. Unter anderem spielt eine bereits genannte Tatsache eine Rolle: Eine der unverzichtbaren Voraussetzungen dafür, daß die fordistischen Vergesellschaftung tatsächlich auch partielle zivilisatorische Fortschritte für die gesamte Gesellschaft brachte, war eine jeweils hinreichend starke revolutionäre und reformistische Arbeiterbewegung. Eine sich als sozialistisch verstehende Arbeiterbewegung konnte ihre diesbezüglichen Kampferfolge selbst als sozialistische (miß)verstehen. Im Westen war diese Auffassung bezüglich der Ergebnisse ihres Kampfes um ein besseres Lebensniveau noch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft besonders in der Sozialdemokratie verbreitet. Im Osten, angesichts des durch eine Revolution etablierten Staats und des Staatseigentums wurde die fordistische Produktion selbst, jede Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und die ganze Gesellschaft als sozialistisch oder kommunistisch interpretiert.

16. Bernsteins Wahrheit vergeht und der real-"sozialistische" Irrtum wird unerträglich

Einen Fortschritt, trotzdem er den Rahmen der bürgerlich-kapitalistischen Epoche noch nicht verließ, bereits als sozialistisch oder kommunistisch zu bezeichnen, das bedeutet, die Termini Sozialismus bzw. Kommunismus als Bezeichnung für eine den Kapitalismus aufhebende Gesellschaftsformation im Marxschen Sinne aufzugeben. Faktisch wurde damit (bei den kommunistischen Parteien wider Willen) eine Erkenntnis Eduard Bernsteins anerkannt, nach der die proletarische Bewegung und deren Wirkung im Kapitalismus alles und die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Strukturen, in diesem Sinne ein sozialistisches Endziel, zumindest auf absehbare Zeit nichts sei. Die über Jahrzehnte noch bestehende Unmöglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft und die Möglichkeit eines erfolgreichen Kampfes um zivilisatorische Errungenschaften noch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft setzte sich im Osten in der selbstbetrügerischen Weise durch, daß nichtsozialistische Strukturen als Sozialismus interpretiert wurden. Dies fand u.a. seinen Ausdruck in der Bezeichnung real existierender Sozialismus.

Solange innerhalb der bürgerlichen Epoche noch Zivilisationsfortschritt erkämpfbar war – der Konkurrenzwiderspruch zwischen Ost und West spielte hier eine fördernde Rolle –, war die Illusion vom sozialistischen Charakter der Arbeiterbewegung bzw. der aus ihre entstandenen östlichen Gesellschaften motivierend, unvermeidlich und noch hinnehmbar. Heute dagegen ist eine Bestimmung von Sozialismus, die auch den Grundstrukturen des Ostens eine sozialistisch-kommunistische Qualität beimißt (wenn auch mit solch einschränkenden Attributen wie "entarteter, bürokratischer, befehlsadministrativer, feudaler, Erziehungs-, Früh- oder Staatssozialismus"), unerträglich geworden. Dies ist nicht nur deshalb so, weil der Osten samt seiner Illusionen zusammenbrach, auch deshalb nicht, weil sich in den Metropolen unumkehrbar mit der fordistischen Produktionsweise auch die damit verbundene alte Struktur der kampffähigen Arbeiterklasse auflöste und auflöst, die traditionelle "sozialistische" Ideologie der Arbeiterklasse und die des Real-"Sozialismus" also ihre reale Basis und Funktion verloren haben bzw. verliert. Die Zersetzung des fordistischen Kapitalismus in den Metropolen und die Auflösung der alten Arbeiterbewegung sowie des Real-"Sozialismus" sind untrennbar miteinander verbundene Prozesse. Letztere konnten und können also zukünftig unmöglich verhindern, daß ein postfordistischer Kapitalismus nunmehr bereits ohne Krieg und Faschismus die einst errungenen zivilisatorischen Standards verliert. Dies alles begründet bereits die Unsinnigkeit, weiter an dem Dogma etwa vom sozialistischen Charakter des Ostens festzuhalten, unter Bezug auf ihn etwa den sogenannten Sozialstaat verteidigen zu wollen.

Nicht mehr erträglich ist o. g. Illusion vom sozialistischen Charakter des Ostens vor allem aber aus folgendem Grund: Am Ende der zivilisationsverträglichen Phase des Kapitalismus entstehen mit der Auflösung seiner fordistischen Vergesellschaftung gerade diejenigen materiellen Voraussetzungen dafür, daß nunmehr erfolgreich für einen neu zu definierenden Sozialismus bzw. Kommunismus gerungen werden kann. Die erforderlichen Strukturen einer starken Emanzipationsbewegungen, die die sich im Alten entwickelten Elemente zu einer neuen Lebens- und Produktionsweise formieren können, sind in den Kategorien des Marxismus-Leninismus bzw. des Arbeiterbewegungsmarxismus nicht erkenn- und denkbar. Sie konnten sich selbst auch nicht innerhalb der tragenden Strukturen der westlichen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung bzw. in denen der Sowjetgesellschaften entwickeln. Im Gegenteil, überall dort, wo sich neue soziale Bewegungen in Ansätzen konstituierten, etwa in der antiautoritären 68er Bewegung, in den basisdemokratischen Ansätzen der sogenannten neuen sozialen Bewegungen ab den 1970er Jahren, in denjenigen Teilen der ‘89er DDR-Bürgerbewegung, die nicht auf den Westen als Alternative setzten, in solchen Strukturen wie in den von emanzipatorischen Bewegungen kurzzeitig getragenen Runden Tischen – überall dort waren diese Bewegungen nicht nur der Arbeiterklasse in Ost und West fremd. Sie standen auch im Gegensatz zu den real-"sozialistischen" Strukturen und der westlichen Staatlichkeit. Im Osten initiierten sie schließlich deren friedliche Auflösung. Genau solche Bewegungen, deren radikaldemokratischen, der eigenen Aktivität eines großen Teiles der Bevölkerung und uneingeschränkter Öffentlichkeit verpflichteten Strukturen und die dementsprechenden Runden Tische verweisen m. E. auf die inzwischen von der Geschichte "endlich entdeckte politische Form", in der sich auf einer tatsächlich gegebenen ökonomischen Basis auch das Aufheben des westlichen Kapitalismus durch das Begründen herrschaftsfreier Formen von Gesellschaftlichkeit vollziehen kann. Mit der Auflösung des Fordismus setzt die Geschichte nicht nur die ML-Ideologen sondern auch Bernstein ins Unrecht. Zivilisation ist heute weder mit dem östlichen Real-"Sozialismus" noch mit der weiteren kapitalistischen Entwicklung westlicher Prägung zu haben, sondern nur noch durch den Bruch mit beiden.

17. Stalinismus – eine spezifische Form der fordistischen Vergesellschaftung

In allen Ländern in Ost und West, die diese Form der Produktion entwickelten, übernahm der Staat im Verhältnis etwa zum 19. Jahrhundert umfangreiche Regulierungsfunktionen. Unter den spezifischen russischen Bedingungen der nachholenden Entwicklung war dies ohne eine besonders starke Zentralisation staatlicher Gewalt undenkbar. Anatolij Rybakow läßt einen Tschekisten gegenüber einem verbannten Kommunisten sagen: "Unser Mushik kannte Jahrhunderte hindurch nur ein technisches Gerät: die Axt. Wir aber setzen ihn auf den Trecker, auf den Mähdrescher, ins Auto, er beschädigt den Motor aus Unkenntnis, weil er nicht nur technisch, sondern überhaupt ungebildet ist. Was sollen wir machen? Abwarten, bis das Dorf seine Jahrhunderte alte Rückständigkeit überwunden, der Mushik seinen in Jahrhunderten harausgebildeten Charakter verändert und das flache Land das moderne technische Niveau erreicht hat? Inzwischen sollen sie getrost alles kaputtmachen: Trecker, Mähdrescher, Autos, zu Ausbildungszwecken gewissermaßen? Nein, das können wir uns nicht leisten, sie haben uns zuviel Schweiß und Blut gekostet. Und warten können wir auch nicht – die kapitalistischen Länder schnüren uns die Luft ab. Uns bleibt nur die Angst als Mittel, das ist schlimm genug, aber es ist das einzige. Im Wort Saboteur, Schädling, ist die Angst verkörpert. Hast du einen Trecker beschädigt, bist du ein Schädling, wirst als Saboteur abgestempelt und kriegst deine zehn Jahre aufgebrummt! Und für eine Mähmaschine und die Dreschmaschine ebenfalls zehn. Da wird der Mushik nachdenklich, kratzt sich im Nacken und hütet den Trecker wie seinen Augapfel. Ja, er spendiert einem, der sich auch nur einigermaßen auskennt, gern eine Flasche, damit der ihm beibringt, mit dem Ding umzugehen. ... Das sind die Direktiven für die Gerichte. Einen anderen Ausweg gibt es eben nicht: Wir retten die Industrie, retten das Land und seine Zukunft. Warum man im Westen nicht so vorgeht? Das will ich Ihnen sagen. Unseren ersten Trecker haben wir 1930 gebaut, im Westen lief die Traktorenproduktion schon im Jahr 1830 an, also hundert Jahre früher, sie haben eine hundertjährige Erfahrung. Außerdem ist der Trecker dort Privateigentum, und der Besitzer schützt sein Eigentum. Bei uns dagegen gehören die Maschinen dem Staat, deshalb muß der Staat sie auf seine Weise schützen."

Solche Zwänge, sprich konkrete historische Verhältnisse, schaffen sich ihre Persönlichkeiten bzw. sie geben ganz bestimmten Typen die Möglichkeit, sich durchzusetzen. Nicht die falschen Ideen Lenins oder etwa abartige Gene eines Stalin sind die Ursachen für die Grundstrukturen der Sowjetgesellschaft. Es ist kein einem oder vielen Bolschewiken oder den westlichen Stalinisten innewohnendes Abstraktum, das ein Jahrhundertphänomen wie die stalinistische Gesellschaft hervorbringt, das den Einfluß stalinistischer Ideen erklärbar macht.

Daß die Bolschewiki, beginnend mit Lenins Was tun? sich überhaupt über die Arbeiterklasse und über die Gesellschaft erheben konnten, daß sie, sofern im Prozeß der Stalinisierung Sowjetrußlands nicht vernichtet, selbst zu autoritären Führern wurden, eine Erziehungsdiktatur ausübten, ist Ausdruck der bereits genannten Tatsache, daß der Zivilisationsfortschritt noch über Generationen hinweg nur in antagonistischen Formen, d. h. in innerhalb klassengespaltener Gesellschaften vor sich gehen konnte und mußte. Grundsätzlich andere Varianten, die bestimmte Züge eines Kommunismus auch auf unzureichende Grundlage in die Gesellschaft implantieren, sind abstrakt denkbar und wurden praktisch versucht (das Sowjet-/Räte-Prinzip selbst war ein solches Element; siehe auch die anarchistischen Sozialismusversuche in Spanien während des Krieges 1936-39). Solche Versuche können sich in abgegrenzten bornierten Bereichen durchaus eine Zeitlang halten, letztlich aber mit dem Ergebnis, daß die Zusammenhänge zwischen Produktions- und Lebensweise auch durch stärkste revolutionäre Motivation nicht ignoriert werden können und sich diejenige "alte Scheiße" wieder herstellt, die den tatsächlichen materiellen Möglichkeiten entspricht.

Wenn eine Revolution, "das autoritärste Ding, das es gibt", auf ökonomische Verhältnisse trifft, die im unmittelbaren Fertigungsprozeß autoritäre Formen des Wirtschaftens erzwingen, wenn die siegreiche Partei unter diesen Bedingungen ihrer Herrschaft Dauer verleihen will, dann kann diese Herrschaft unmöglich einen Übergang zu einer klassenlosen, herrschaftsfreien Gesellschaft einleiten. Diese Partei und diese Gesellschaft mögen von sich halten, was sie wollen, jeder ihrer Fortschritte ist notwendigerweise ein nichtsozialistischer. Menschen, die an den emanzipatorisch-sozialistischen Vorstellungen festhalten, unter den gegebenen Umständen an einer Utopie, geraten in die gesellschaftliche Isolation bzw. werden bekämpft oder sogar vernichtet. Wenn die Abkehr von einer sozialistischen Illusion nicht als antisozialistische Konterrevolution aufgefaßt wird, dann ist es auch nicht berechtigt, den Stalinismus als konterrevolutionär zu bezeichnen. Der Stalinismus führt auf eine barbarische Weise die Oktoberrevolution auf ihre tatsächlichen historischen Möglichkeiten hin, auf eine im Verhältnis zum Westen nachholende bzw. parallele Entwicklung noch innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Epoche.

Direkt antisozialistisch können solche Parteien (wie die früher herrschenden, sich kommunistisch nennenden) und ihre Ideologien erst dann wirken, wenn international die Bedingungen für einen möglichen Umbruch zur sozialistischen, die Klassen auflösenden Gesellschaft tatsächlich herangereift sind, wenn also dominant werdende emanzipatorische Bewegungen nicht mehr zu autoritären Formen des Wirtschaftens gezwungen sind. Von diesem Zeitpunkt an sind Zusammenbrüche stalinistischer Systeme eine notwendige, allerdings nicht hinreichende Bedingung für den Ringen neuer sozialer Bewegungen für einen nun möglichen Sozialismus.

18. Thesen über Feuerbach und noch einmal zum "sozialistischen" Fordismus

Marx identifizierte in den Feuerbachthesen den Standpunkt des "alten Materialismus" als den der bürgerlichen Gesellschaft. Er kritisiert am vorhergehenden Materialismus, daß dessen "Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren." Der neue Materialismus dagegen versteht "das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung ... als revolutionäre Praxis". Im Gegensatz zum alten ist der Standpunkt dieses Materialismus "die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit."

Ich greife in der Analyse des Leninschen Partei- und Sozialismuskonzeptes, der einstigen "sozialistischen" Ideologie sowie des Charakters der real-"sozialistischen" Gesellschaften methodisch auf den Marxschen Geschichtsmaterialismus der Thesen über Feuerbach zurück. Ich stelle folgende Frage: Unter welchen Umständen kann die praktisch-kritische Tätigkeit der Menschen einen solchen Charakter annehmen, daß die menschliche Selbstveränderung einen uneingeschränkt emanzipatorischen Charakter annimmt, also die gesellschaftlichen Formen dieser Praxis sozialistisch sind oder werden können?

Wenn Marx feststellt, daß der bürgerliche anschauende Materialismus einen Teil der Gesellschaft über den anderen erhebt, dann spricht er eine Grundstruktur der bürgerlich-kapitalistischen Praxis und anderer in Klassen gespaltener Gesellschaften aus. Wenn die den Menschen bestimmenden Umstände und Erziehung als deren eigenen, in der Praxis geprägte Produkte verstanden werden, wird leicht einsichtig, daß solche Praxisformen, die unvermeidbar die o. g. Spaltung der Gesellschaft reproduzieren, keine emanzipatorischen, keine sozialistischen sein können.

Bürgerlich-kapitalistische Praxen können auf wissenschaftliche Weise seit Entstehen der kapitalistischen Gesellschaft vom Standpunkt der gesellschaftlichen Menschheit kritisiert werden. Die Möglichkeiten ihrer praktischen Aufhebbarkeit sind jedoch an das Vorhandensein bestimmter Praxisformen geknüpft. Gerade mit Marx sind diejenigen Bedingungen bestimmbar, unter denen der Standpunkt der gesellschaftlichen Menschheit nicht nur ein theoretisch einnehmbarer sein kann, sondern unter denen sich dieser auch massenhaft, das heißt vornehmlich im "Werkelalltag", behaupten kann. Ohne dies kann die entsprechende die bürgerliche Gesellschaft kritisierende Theorie entweder die Massen nicht erfassen, also nicht zur materiellen Gewalt werden, oder es geschieht in einer, den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht überschreitenden, die auf den gesellschaftliche Menschheit gerichtete die Theorie verkehrenden Weise. Marx’ Ziel, die Welt nicht nur verschieden zu interpretieren, sondern sie gemäß dem Standpunkt der menschlichen Gesellschaft verändern zu helfen, ist eben an diejenigen Bedingungen gebunden, unter denen sich die o. g. Spaltung der Gesellschaft überhaupt dauerhaft praktisch aufheben läßt. Eine gesellschaftliche Praxis, die sich in einer Produktionsweise bewähren muß, als deren unverzichtbare Bedingung sich über die unmittelbaren Produzenten eine organisierende, kontrollierende, den Gesamtprozeß der Produktion zusammenhaltende, dessen Ziel bestimmende und über die Produkte verfügende Herrschaft erhebt, eine Praxis, in der sich also Herr- und Knechtschaftsverhältnisse reproduzieren, eine solche Praxis kann keine sozialistische sein oder werden. Sie zwingt beständig zum Erheben eines Teils der Gesellschaft über den anderen. Sie reproduziert damit auch die geistige Entsprechung und ideologische Förderung der Praxen, den "alten Materialismus", den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft.

In der fordistischen Produktionsform ist, wie wir sahen, die Spaltung zwischen den unmittelbaren Produzenten und den Organisatoren, Dirigenten und Kontrolleuren der Produktion, also die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, also der Antagonismus zwischen den Personen, die die Kapitalfunktionen repräsentieren und denen, die unter ihrem Regime als Lohnarbeiter produzieren müssen, auf die Spitze getrieben. Sofern die "Kaudinischen Pässe" dieser Produktionsform noch nicht durchschritten und also noch nicht solche Elemente geschaffen wurden, deren Neuformierung zu einer Aufhebung dieser Antagonismen führen können, können Revolten und Revolutionen wohl zum Austausch der Herrschenden, zum Austausch von Eliten, auch zum Erheben bisher subalterner Fraktionen der Gesellschaft zu neuen Herrschern führen, jedoch nicht zum Auflösung von knechtender Herrschaft überhaupt. Unabhängig davon, ob die revolutionäre oder revoltierende Schicht oder Klasse siegt oder nicht, solange sie sich innerhalb der fordistischen Form der Vergesellschaftung bewegen muß, entwickeln sich auch innerhalb ihrer eigenen Organisationen kapitalismuskompatible Herrschaftsstrukturen und entsprechende Mentalitäten. In solchen Strukturen werden im Falle des Erfolges selbst aus den lautersten Revolutionären einerseits notwendig Herren und andererseits Untertanen oder auch massenhaft Opfer ihrer einstigen Genossen.

19. Die Identität von Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum

Marx ist, indem er sich der Analyse der Produktionspraxis als der für den Charakter der Gesellschaft entscheidenden zuwandte, sehr früh darauf gekommen, daß (knechtende) Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum identische Begriffe sind und demzufolge die Aufhebung des Privateigentums identisch ist mit der Aufhebung von knechtenden Formen der Arbeitsteilung und der Entfremdung und umgekehrt. Das hat er später nicht nur nicht widerrufen, sondern im Gegenteil in seinen Kritiken der politischen Ökonomie des Kapitalismus wesentlich vertieft. Dies geschah u.a. durch die Aufhellung der historischen und logischen Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der kapitalistischen Arbeitsteilung und der damit sich verändernden Stellung von Produzenten gegenüber ihren Arbeitsmitteln und den Produkten ihrer Arbeit sowie der Änderungen in ihren Individualitäten. Marx analysierte u.a. mit der Entwicklung des Warenfetischismus den Mechanismus, durch den sich den im kapitalistischen Produktionsprozeß Befangenen falsches Bewußtsein aufdrängt. Mit einer solchen Sicht war eine Definition unvereinbar, nach der Sozialismus, also eine Gesellschaft , in der die assoziierten Individuen die materiellen Bedingungen ihrer Existenz unter ihre gemeinschaftliche, herrschaftsfreie Kontrolle bringen, konstituiert werden soll durch das kapitalistische Monopol, verstaatlicht und beherrscht durch die sogenannte Diktatur des Proletariats sowie durch eine sozialistische Erziehung genannte Zurichtung von Menschen auf die Anforderungen der Produktion und Konsumtion nach dem tayloristisch-fordistischen Muster.

Dem Marxisten-Leninisten war – losgelöst von einer solchen Problematisierung – die Marxsche Auffassung sehr geläufig, daß in politischer Auseinandersetzung auch die Agenten der kapitalistischen Produktion die von Marx dargestellte Befangenheit aufbrechen können, in der revolutionären Praxis nicht nur ihre gesellschaftlichen Verhältnisse umwälzen, sondern sich selbst auch zu Trägern der neuen Gesellschaft entwickeln. Es ging im Leninschen Sinne aber mehr darum, daß im revolutionären Kampf möglichst viele Menschen zu disziplinierten Kämpfern für den "Sozialismus" unter der Führung bzw. Herrschaft der bolschewistischen Partei werden und dann zu Dienern des "sozialistischen" Staates als daß sie sich gemäß Marx’ Sozialismus/Kommunismus-Vorstellungen die reichen Bedürfnisse eines in seinen Assoziationen freien, genießenden und schöpferisch tätigen Individuums aneignen und die Befreiung von den knechtenden kapitalistischen Verhältnissen selbst schon zum Akt der Herausbildung dieses Individuums wird. Diese ursprünglich Hoffnung wurde angesichts der Realitäten auf die Zeit nach dem Sieg im internationalen Klassenkampf und die hinreichende Umerziehung durch die "sozialistische" Erziehungsdiktatur vertröstet.

So wie die klassisch-bürgerlichen endeten auch alle bisherigen proletarisch-revolutionären Praxen wie die der russischen Revolutionen von 1917 (revolutionär hier im engeren Sinne bezogen auf den politischen Umsturz) auch immer damit, daß sich die Gesellschaft wiederum, gegebenenfalls auf neue Weise in mindestens "zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist" sondierte. Diejenigen Theorien, die das Ergebnis solcher Umwälzungen geistig fördernden und verteidigten, konnten wie der von Marx kritisierte alte Materialismus nicht über den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft hinauskommen. Der Marxismus-Leninismus wurde in dem Maße, wie sich diese neue Gesellschaftsspaltung etablierte, zur entfaltetsten und geschichtsmächtigsten Form dieses alten Materialismus. Ausbruchsversuche aus diesem verengendem Denken hat es auch bei Marxisten-Leninisten gerade mit Bezug auf Marx’ frühe Werke gegeben. Der ML hat die tatsächliche und unter den erreichbaren ökonomischen Fortschritten noch nicht aufhebbare Entfremdung und knechtende Form der Arbeitsteilung realistischerweise akzeptiert und als Entwicklungsbedingung der östlichen Gesellschaften verteidigt. Dies geschah auf eine spezifische Weise, indem die tatsächliche Entfremdung und knechtende Formen von Arbeitsteilung ignoriert, wegdefiniert oder in eine Freiheit durch Unterwerfen unter den höchsten Willen uminterpretiert wurden. Der ML hat die gegebene Spaltung der Gesellschaft ideologisch abgesichert: hier die weisen Erzieher, d.h. die Partei neuen Typus bzw. der "sozialistische" Staat, da die zu führenden Zöglinge. Er hat so eine spezifische Form des Fortschritts innerhalb der bürgerlichen Epoche gefördert.

Zwei Werke können als Gründungsdokumente dieses alten Materialismus in seiner dem 20. Jahrhundert angemessenen Ausprägung gelten.

Das eine ist Lenins Was tun? Es ist gerichtet auf die ideologisch-politische Formierung des Proletariats unter der Führung einer Vereinigung von Politmanagern, damals Berufsrevolutionäre genannt, zu einer möglichst einheitlichen, politisch unter einem Befehl stehenden schlagkräftigen Macht, die in der Lage ist, eine neue Herrschaft zu begründen. Das andere ist bezogen auf die Produktion, auf die Formierung riesiger Produktionsarmeen unter einem Kommando zur Erlangung der ökonomischen Vorherrschaft durch entsprechende große Unternehmen. Es ist das wissenschaftliche Werk von Taylor bzw. dessen Popularisierung in Verbindung mit der praktisch-ökonomischen Anwendung durch Ford. Das mit Was tun? begründete Führungskonzept eines zunächst über die revolutionäre Arbeiterklasse und später über die gesamte Gesellschaft erhobenen Teils der Gesellschaft war in seiner stalinistischen Ausprägung vollkommen kompatibel mit Grundprinzipien der Leitung von Wirtschaftsmonopolen und in Bezug auf die Organisation des unmittelbaren Arbeitsprozesses nach dem Konzept Taylors. Als Lenin gezwungener- und klugerweise die Darstellung des Taylorsystems als verbindliche Schulungsliteratur für die sowjetischen Gewerkschaften empfahl, also jenes Systems, das in vollkommener Weise den Arbeiter als "dressierte Naturkraft" bildet, war das ein entscheidender Schritt, um angesichts der materiellen und kulturellen Rückständigkeit Rußlands die in Was tun? bereits angelegte theoretische Möglichkeit der stalinistischen Herrschaftsformen praktisch wahr werden zu lassen.

Im Marxschen Sinne, daß alle "Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, ... ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis" finden, wird das, was den heute nach menschlicher Emanzipation strebenden Menschen an der "sozialistischen" Ideologie und der Form der Machtausübung als mystisch erscheint, letztlich mit dem Blick auf die in diesem Jahrhundert dominierende Form des Produzierens unter den spezifischen sowjetischen Bedingungen rationell erfaßbar.

20. Das "sozialistische" Vater-Unser

So sehr sich der ML auf Marx hinsichtlich der Frage stützte, wie sich Menschen, hier besonders die Proletarier, im politischen Kampf zu einer revolutionären, die alten Verhältnisse aufbrechenden Klasse formieren können, so wenig nahm der ML hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit, die sozialistische Gesellschaft tatsächlich gestalten zu können, auf diejenigen Grundgedanken des Marxschen Geschichtsmaterialismus Bezug, die die Stellung des sich befreienden Individuums in der kommunistischen Gesellschaft betreffen. In den zehn "Grundsätzen der sozialistischen Ethik und Moral" dagegen wird das Wertvolle eines Menschen vorrangig an der Bereitschaft gemessen, alle Kräfte für das Vaterland einzusetzen, was praktisch bedeutete, treu zu dienen, nämlich der Partei, dem Staat, dem Volk, d.h. den von Oben definierten gesellschaftlichen Interessen. Alle diesbezüglichen Schwüre wie das Jugendweihe-Gelöbnis stellten eine Art unterwürfiges Vater-Unser-der-du-bist ... dar. Dies denunzierend lächerlich zu machen, ist nach der Wende eine der leichtesten Übungen. Es zu begreifen, ist eine andere Sache. Die Tatsache, daß das Kommunistische eine religiöse Form annahm und großen Einfluß gewann, ist eine Konsequenz historischer Tatsachen zu analysieren. Wie bereits gesagt, konnten auf die real-"sozialistische" Weise zwar zivilisatorische Fortschritte errungen werden konnte. Die Realitäten aber, unter denen die "sozialistischen" Staaten begannen und die sie dabei notwendigerweise reproduzieren mußten, gestatteten noch keine solche Stellung des Individuums, in der es sich frei machen konnte von klassenmäßiger Unterwerfung, also auch frei von Entfremdung und damit verbundener Religiosität. Das "sozialistische" Banner, unter dem gekämpft wurde, war eine äußerst wirksame, aber gemessen am ursprünglichen Anspruch eine falsche Flagge.

Im internationalen Rahmen müssen ganz bestimmte ökonomische Voraussetzungen entstanden sein, damit das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der Selbstveränderung der Menschen einen spezifisch sozialistischen Charakter annehmen kann. Dem ML als "sozialistische" Herrschaftsideologie war es unmöglich, die bekannte Tatsache, daß eine auf die Handmühle gegründete Produktionsweise eine feudale Gesellschaft, eine auf die Dampfmühle begründete "eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten" ergibt (also die materialistische Geschichtsauffassung), auch auf die Frage anzuwenden, ob eine auf den Fordismus gegründete Gesellschaft den bürgerlich-kapitalistischen Rahmen überhaupt überschreiten kann.

Der Osten ist weg, die Fragen bleiben bzw. können neu gestellt werden. Nun von den Belastungen des Ost-West-Konfliktes praktisch befreit, muß sich eine emanzipatorische Bewegung nun auch von dem Mißverständnis befreien, die frühere Ost-West-Auseinandersetzung sei ein Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus gewesen. Damit kann die Frage erst angenommen werden, welches die im Kapitalismus, v. a. in der Produktion, entstehenden Bedingungen sind, auf deren Basis revolutionäre Praxis einen sozialistischen Charakter annehmen kann?

21. Die Kapitalisten oder Das Kapital?

Marx’ Gedanken zur Identität von (knechtender) Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum aufgreifend, ist zu klären, was bei der Aufhebung von Kapitalverhältnissen überhaupt aufgehoben werden muß. Ich stimme folgenden zwei Behauptungen Daniel Dockerills zu. Erstens: Das Kapital kann "nur als umzuwälzendes und umwälzbares Verhältnis begriffen werden oder gar nicht." Zweitens: "Kritische Theorie des Kapitalismus ohne Theorie der sozialistischen Revolution ... geht nicht". Setzen wir dies voraus und ebenso die Annahme, daß die Oktoberrevolution und die Sowjetgesellschaft keinen sozialistischen Charakter hatten, dann bedeutet das für das Begreifen von Kapitalverhältnissen: Wenn diese von einem Standpunkt aus analysiert werden, der die Sowjetgesellschaften als sozialistische versteht, nach unserem Verständnis also von einer Fehlinterpretation der Oktoberrevolution als eine sozialistische, dann führt das zu einem eingeengten bzw. falschen Kapitalbegriff. Wer in den sowjetischen Produktionsformen bereits aufgehobene Kapitalverhältnisse sieht, geht sowohl hinsichtlich des Sozialismus- als auch des Kapitalismusverständnisses selbst in die Irre. Das hat Konsequenzen für die Vorstellungen davon, welche gesellschaftlichen Strukturen mit einer sozialistischen Revolution aufgehoben werden als auch durch welche Strukturen diese geschieht und welches die Subjekte dieses Prozesses sind.

Wir haben gesehen, daß nach Lenins Auffassung die Verstaatlichung monopolistischen Eigentums an den Produktionsmitteln diesem genau dann einen sozialistischen Charakter verleihe, wenn dieser Staat durch das revolutionäre Proletariat erkämpft wurde. Bei ihm und später im ML erfolgt die sozialökonomische Bestimmung der siegreichen proletarischen Revolution und der nachfolgenden Verstaatlichung der Produktionsmittel in einer Weise, als habe Marx nicht Das Kapital, sondern Der Kapitalist bzw. Die Kapitalisten geschrieben, als sei mit der Vertreibung der bisherigen Unternehmer und der Übernahme ihrer Funktionen durch Vertreter des Staates das Kapitalverhältnis aufgehoben. Die Bestimmung der Sowjetgesellschaft als sozialistisch bzw. das Verständnis der Kapitalverhältnisse geschieht bei gleichzeitigem Bezug auf bestimmte Aussagen von Marx und Engels in einer Weise, als hätten jene nie über die Identität von Entfremdung, (knechtender) Arbeitsteilung und Privateigentum geschrieben, nie über die Befreiung der Individuen von den ihnen entfremdeten und sie knechtenden Mächten als unverzichtbares Charakteristikum der sozialistischen Revolution, nie über reiche Individualität des sich frei assoziierenden kommunistischen Individuums, nie über den Unterschied zwischen dem bürgerlichen und menschlichem Standpunkt in den Thesen über Feuerbach. Die zwingende Konsequenz: philosophische Diskussionen über Entfremdung im "Sozialismus" wurden unterbunden oder als revisionistisch verdächtigt.

22. Wenn die Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln allgemein wird ...

Der Fordismus macht die "die Explosion der menschlichen Entfremdung" im Marxschen Sinne "praktisch wahr". Mit ihm setzt sich in Ost und West die reelle Subsumtion unters Kapital durch. Dies schreibt Zwi Schritkopcher zu recht. Als wesentliche Beziehung innerhalb der östlichen materiellen Produktion entfaltete sich letztlich dort, wo nicht wie in den GULAGs die blanke Gewalt die Hauptrolle spielte bzw. wo der sich im Alltag verflüchtigende Pioniergeist der ersten nachrevolutionären Generation nicht mehr dominierte – dieser ist in Hermann Kants Aula ein literarisches Denkmal gesetzt –, überall dort setzte sich das normale kapitalistische Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital durch. Auf Seiten des Lohnarbeiters blieb letztlich das individuell materielle Interesse, das ihn zur Arbeit treibt. Lenin versuchte seinerzeit zugleich mit den kommunistischen Subbotniks, den freiwilligen unbezahlten sonnabendlichen Arbeitseinsätzen, eine ganz neue Form von gesellschaftlicher Arbeit als kommunistisches Gegenstück zu dieser Kapitalisierung zu etablieren. Das sollte der Keim der wirklich neuen Produktionsweise sein, ein "faktischer Beginn des Kommunismus." Diese Subbotniks wurde als politische Aktion auch bis in die 80er Jahre aufrechterhalten, in der DDR ergänzt auch durch andere Formen (Nationales Aufbauwerk - NAW, Volkswirtschaftliche Masseninitiative - VMI, diese im letzten Jahrzehnt dann auch bezahlt). Solche Formen einer nicht über den Lohn vermittelten, meist freiwilligen Arbeit konnten aber keinen ernsthaften Einfluß auf die Gesellschaft gewinnen. Wenn die Produktionsarbeit von den Bedingungen her, unter denen sie stattfindet, und angesichts der Länge der Arbeitszeit es ausschließt, daß die Arbeiter selbst zugleich massenhaft mitplanen, die Produktion mitdirigieren und darüber hinaus mitregieren, dann bleibt die Hoffnung auf ein sozialistisch-kommunistisches Verhältnis zur Arbeit letztlich frommer Wunsch bzw. entsprechende Losungen sind nur ideologisches Instrument zur Beherrschung der Konflikte, die aus den Herr- und Knechtschaftsbeziehungen innerhalb der Produktion selbst resultieren. Die Aufrufe, immer Verantwortung für das Ganze zu übernehmen, suggerieren eine nicht vorhandene Gemeinschaft von Gleichberechtigten in Bezug auf die wesentlichen Entscheidungen über Produktions- und Lebensweise. Die Teilnahme der Arbeiter an der jährlichen Plandiskussion entsprechend der Losung Arbeite mit, plane mit, regiere mit! blieb letztlich eine Farce wie vergleichbare postfordistische Managementmethoden in bestimmten kapitalistischen Konzernen auch. Wesentliche Entscheidungen konnten gar nicht zur Diskussion gestellt werden und wurden es auch nicht. Es ging bestenfalls um die konkrete Erfüllung der schon beschlossenen Richtlinien.

Lenins Projekt eines Staates mit der notwendigen Autorität, die den breiartigen nachrevolutionären Zustand beendet, ist gelungen. Notwendig gescheitert ist der Versuch, auf diesem Weg über eine solche "Fehlgeburt der Gesellschaft" (Marx über den Staat) eine Brücke in den Sozialismus zu schlagen. Der Kampf gegen die Entfremdung zwischen den Produzenten und der Staatsmacht, dieses unvermeidlichen Produktes und dieser Entwicklungsbedingung der knechtenden Arbeitsteilung, der Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, mußte verloren gehen. Tischler und Dachdecker konnten sich (wie anderswo Schauspieler) zwar dazu aufschwingen, den Staat zu regieren. Aber die Hoffnung auf die Köchin (oder die Dreherin), die den "sozialistischen" Staat regiert, und zugleich Köchin (oder Dreherin) in einer fordistischen Produktion bleibt, war nicht realisierbar. Die konkreten gesellschaftlichen Formen, im Osten die spezifisch stalinistischen, die die entfremdeten Verhältnisse auf der Basis einer fordistischen Produktionsweise annahmen, waren selbstverständlich auch ein Resultat der jeweiligen nationalen kulturellen Traditionen, der überlieferten Ideen und der vorhergehenden bürgerlichen Aufklärung oder spezifischer vorkapitalistischer Barbarei. Aber die Entfremdung selbst, die Herausbildung einer den Produzenten gegenüberstehenden, von ihnen nicht beherrschbaren Macht war auf der Basis der bis ans Ende des 20. Jahrhunderts überhaupt zugänglichen Produktionsformen nicht durch ein höheres Kulturniveau, nicht durch Aufklärung, durch noch so geniale Führungen aufhebbar. Michail Schatrows Theater-Stück Blaue Pferde auf rotem Grund, das den letzten Leninschen Kampf gegen das Etablieren einer dem Volke antagonistisch gegenüberstehenden Staatsmacht gestaltet, wurde seinerzeit auch von mir so interpretiert, daß dieser Kampf durch eine klügere sowjetische oder DDR-Politik im Rahmen der gegebenen angeblich sozialistischen Grundstruktur gewinnbar wäre bzw. mit der Perestroika nun endlich auch gewonnen werden könnte. Das war ein Irrtum, nicht geschuldet etwa der zufällig mangelnden Fähigkeit eines Gorbatschow bzw. anderer Reformer, sondern charakteristisch für einen alten Materialismus, der den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht verlassen hat und auch in der Perestroika nicht verlassen konnte. Der Versuch, als nichtsozialistisch erkannte Strukturen durch von oben eingeleitete Reformen, also wieder durch den Gebrauch entfremdeter Macht, doch noch einen emanzipatorischen Charakter zu geben, scheiterte und mußte scheitern. Wirklich sozialistisch-emanzipatorische Schritte konnten und können weder darin bestehen, das real-"sozialistische" (oder ein anderes) Staatsgebäude zu tapezieren noch es umzubauen, sondern, wie Marx schon lange begriffen hatte, es zu zerbrechen, was denn auch im Osten geschah. Der emanzipatorische Impuls etwa der DDR-Bürgerbewegung des Jahres 1989 mit dem kurzzeitigen Höhepunkt der radikaldemokratischen Runden Tische wurde allerdings hinweggespült von deutsch-nationaler Trunkenheit so daß es nur zu einem Austausch der Oligarchien und noch nicht zu einer tatsächlichen "Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft als ihre eigne lebendige Macht" (Marx über die Pariser Kommune) kam.

23. Das Proletariat – vorantreibendes Element des Kapitalismus

Georg Lukács schrieb 1923 über die Sozialdemokratie: Sie habe der Gefahr, daß das Proletariat gemeinsam mit der Bourgeoisie "in der Unmittelbarkeit seines Daseins stecken bleibt" eine politische Organisationsform gegeben. Sie hätte "die bereits mühsam errungenen Vermittlungen künstlich ausgeschaltet, um das Proletariat in sein unmittelbares Dasein, wo es bloß Element der kapitalistischen Gesellschaft und nicht zugleich Motor ihrer Selbstauflösung und Zerstörung ist, zurückzuführen. ... Mit der sozialdemokratischen Ideologie fällt das Proletariat sämtlichen ... Antinomien der Verdinglichung anheim." Genau in der von Lukács beschriebenen Situation findet sich auch die russische Arbeiterklasse wieder, nachdem sie die revolutionäre Überführung/Vermittlung der alten in die sowjetische Gesellschaft zustande brachte und verteidigte. Die erneute Unterwerfung unter Herrschaftsformen ist aber eben nicht auf Fehler der jeweiligen Führungen oder als Priesterbetrug zurückzuführen, wie Lukács dies in bezug auf die Sozialdemokratie tut. Nicht künstlich bzw. durch Fehler, mangelnde Bildung usw. wurde eine angeblich bereits anstehende Entwicklung zum Sozialismus durch die Sozialdemokratie oder durch eigennützige oder bösartige stalinistische Bürokraten aufgehalten. Es handelt sich um die Frage, ob das Entwicklungsniveau der entscheidenden Lebensvoraussetzung, der Produktion, bereits eine Aufhebung der Klasse von Lohnarbeitern, d.h. eine Aufhebung von Kapitalverhältnissen möglich macht oder eben noch nicht. Die Entfremdung ist ebensowenig ein willkürlich geschaffenes Produkt wie sie unter beliebigen historischen Voraussetzungen zerstört oder auch künstlich aufrechterhalten werden kann. Diesbezügliche Vorwürfe gegenüber Lenin und den späteren den früher im Osten herrschenden Kräften waren und sind insofern unsinnig, als noch eine solche Form von Produktion unumgänglich war bzw. ist, die der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln, die also der Herrschaft, der Entfremdung bedarf und diese reproduziert. Als Maßstab sinnvoller Kritik am Osten (auch an der sozialdemokratischen wie kommunistischen Arbeiterbewegung im Westen) kann demzufolge nicht das Selbstverständnis etwa des Ostens als sozialistisch bzw. kommunistisch gelten, sondern die jeweils gegebenen Möglichkeiten, noch innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Epoche Zivilisation zu erringen oder diese Epoche selbst zu überschreiten.

24. Das Entstehen von Kapitalverhältnissen

Ein Blick auf das Entstehen von Kapitalverhältnissen erleichtert die Erkenntnis der Bedingungen, unter denen sie wieder aufhebbar werden. Deshalb ein erneuter Ausflug zu Marx. Er hat die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Stufen der Arbeitsteilung in den noch im Feudalismus entstehenden Kooperationen bis hin zur kapitalistischen Großproduktion, zwischen der Entfaltung kapitalistischen Eigentums, der formellen und reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital sowie der Entwicklung der Agenten des kapitalistischen Produktionsprozesses untersucht. Der einstige Kleinmeister wird zum Kapitalisten, das Kapitalverhältnis wird formell hergestellt, wenn der "Arbeitsanwender selbst von der Handarbeit" entbunden wird und nunmehr in Form des kapitalistischen Kommandos die "Harmonie der individuellen Tätigkeiten vermittelt und die allgemeinen Funktionen vollzieht, die aus der Bewegung des produktiven Gesamtkörpers im Unterschied von den Bewegungen seiner selbständigen Organe entspringen." Es macht bezüglich der sozialökonomischen Qualität der Produktionsweise keinen wesentlichen Unterschied, ob diese Dirigentenfunktion durch den kapitalistischen Unternehmer selbst, durch den Ingenieur/Manager Kleist (um im Bild des Gladkowschen Zement zu bleiben) oder etwa den zum "sozialistischen" Leiter auf Lebenszeit sich entwickelnden proletarischen Revolutionär ausgeübt wird. In all diesen Fällen entwickeln oder reproduzieren sich Kapitalverhältnisse.

Marx stellt unter anderem im ersten Band des Kapitals unter den Überschriften "Teilung der Arbeit und Manufaktur, Maschinerie und große Industrie" sowie "Der Akkumulationsprozeß des Kapitals" dar, welcher Bruch sich dabei in den Gewohnheiten und der Mentalität der von der Kapitalisierung betroffenen Menschen vollzog. Der Einsatz barbarischen Zwangs, die ideologische Vergötterung der Arbeit und vor allem die letztlich tragende Basis dessen, die faktische werkelalltägliche Unterordnung unter die Maschinerie, haben die auf die Erfordernisse der kapitalistischen Produktion gerichtete Disziplinierung der Arbeitskräfte geschaffen. So entwickelte sich als notwendiges geistiges Pendant zur praktischen typisch kapitalistischen Form der knechtenden Arbeitsteilung die Überzeugung der angewandten Arbeitskraft, daß ihr gutes Funktionieren als Teil der Maschine und eines nicht mitbeherrschten Ganzen die natürliche Form jeglichen Produzierens ist. Stolz auf die eigene Leistung, darin eingeschlossen auf die Fähigkeit zu Ein- und Unterordnung unter einen fremden Willen, waren charakteristische Züge, die sich in West und Ost innerhalb der Arbeiterklasse entwickelten und die bewußt gefördert wurden. Auch das Produzieren unter der Herrschaft eines als sozialistisch bezeichnet Leiters, der den Gesamtprozeß organisierte, kontrollierte und die Produktionsziele als Staatsplan als Gesetz einer angeblich volkseigenen Wirtschaft verkündete, brachte den Lohnarbeiter Ost grundsätzlich in die gleiche Abhängigkeitssituation, in der sich der Arbeiter West befand und befindet. Bezogen auf den Gesamtprozeß der Produktion und auf das über sie verfügende Kapital, im Osten das Staatseigentum als Gesamtkapital, im Westen dessen Kapitalformen, liegt für die Ost- wie Westkollegen der "Zusammenhang ihrer Funktionen und ihre Einheit als produktiver Gesamtkörper ... außer ihnen, im Kapital, das sie zusammenbringt und zusammenhält. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen daher als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalsten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft." Solche von Marx angeführten dem Osten wie dem Westen gleichermaßen wesenseigene Züge des Kapitalismus, fanden im Osten aufgrund der o. g. Besonderheiten lediglich spezifische Ausprägungen. Da sich aber der Osten als sozialistisch bezeichnete, gab und gibt hier die "Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft" dem Antikommunisten unendlich viel Stoff für Betrug und Selbstbetrug. "Es ist sehr charakteristisch, daß die begeisterten Apologeten des Fabriksystems nichts Ärgeres gegen jede allgemeine Organisation der gesellschaftlichen Arbeit zu sagen wissen, als daß sie die ganze Gesellschaft in eine Fabrik verwandeln würde." Genau dies wurde im Osten angestrebt, über Jahrzehnte durchaus mit Erfolg. Dies bedeutete u.a., die Zwangsverhältnisse innerhalb der kapitalistisch geführten Fabrik offen und direkt auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen. Diese eine allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer staatsmonopolistischen Phase, die im Faschismus eine spezifisch-tödliche Ausformung erhielt, wurde im Osten zum "sozialistischen" Organisationsprinzip der Gesellschaft erklärt und im Stalinismus bewußt vorangetrieben.

Auch für das "neue ökonomische System" der DDR, das in den 1960er Jahren die unmittelbaren Eingriffe der staatlich-zentralistischen Herrschaft begrenzen und durch freieres Wirken der Kategorien der Warenproduktion dem stummen Zwang der Ökonomie mehr Geltung verschaffen sollte, gilt, was Marx bezüglich der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit als kapitalistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses schreibt: "Sie produziert neue Bedingungen der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit." Sie erscheint einerseits als "historischer Fortschritt und ... Entwicklungsmoment im ökonomischen Bildungsprozeß der Gesellschaft" und "andrerseits als ein Mittel zivilisierter und raffinierter Exploitation."

Marx’ Methode, die Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung der Produktionsmittel, der konkreten Gestaltung des Arbeitsprozesses, den Eigentumsformen und der Subjektivität der in der Produktion agierenden in der Herausbildung des Kapitalismus zu untersuchen, bietet auch das methodische Instrumentarium für die Bestimmung des sozialökonomischen Charakters der auf die fordistische Produktion begründeten Gesellschaft bzw. für die Frage nach den Möglichkeiten, die einer sozialistischen Umwälzung mit dem Auflösungsprozeß dieses Fordismus, erwachsen können. Nach Marx vollzieht sich mit dem Übergang von der manufakturmäßigen Arbeitsteilung zur maschinenmäßigen in der großen Industrie ein Bruch in der Organisationsform der Produktion und dementsprechend in der Stellung der Arbeiter. Die Arbeitsteilung innerhalb der Manufaktur ist zwar auch von einer Hierarchie geprägt, nämlich von der "sie charakterisierenden Hierarchie der spezialisierten Arbeiter" [Hervorhebung U.W.] selbst. Es erscheint noch "der kombinierte Gesamtarbeiter oder gesellschaftliche Arbeitskörper als übergreifendes Subjekt" und der bereits schon vorhandene mechanische Apparat noch als Objekt. Dagegen wird in der großen Maschinerie "der Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet und mit denselben der zentralen Bewegungskraft untergeordnet." Die Arbeiter werden "Gehilfen der Maschinerie". Diese Maschinenarbeit "konfisziert alle freie körperliche und geistige Tätigkeit. ... Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit vollendet sich ... in der auf Grundlage der Maschinerie aufgebauten großen Industrie."

Marx beschreibt mit dieser Darstellung der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital eine Entwicklung, die sich mit der tayloristisch-fordistischen Arbeitsorganisation im 20. Jahrhundert erst noch weltweit entfalten und im 20. Jahrhundert Geschichte machen sollte. Mit der Marxschen Methode kann die mit der fordistischen Industrialisierung verbundene Entwicklung der Sowjetunion als besondere Variante einer Kapitalisierung bestimmt werden. Ich konkretisiere also die These vom unmöglichen sozialistischen Fordismus: In dem Maße, in dem eine fordistische Produktionsform dominierend wird, kann das Kapitalverhältnis nicht nur nicht aufgehoben werden. Es wird im Gegenteil erweitert reproduziert. Lenins Orientierung auf den zuvor als barbarisch verdammten Taylorismus-Fordismus war die achtenswerte Anerkennung der tatsächlichen zivilisatorischen Möglichkeiten der russischen Revolution und zugleich der faktisch unvermeidliche Abschied von der sozialistischen Zielstellung.

25. Engels über die Antiautoritarier

Mit der Problematik der Autorität in Produktion und Staat war lange vor Lenin bereits Engels beschäftigt. Gegen die sogenannten Anitautoritarier schreibt er: "Wenn wir die ökonomischen ... Verhältnisse untersuchen, die die Grundlage der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft bilden, so finden wir, daß sie die Tendenz haben, die isolierte Tätigkeit mehr und mehr durch die kombinierte Tätigkeit der Individuen zu ersetzen. ... überall tritt die kombinierte Tätigkeit, die Komplizierung voneinander abhängiger Prozesse, an die Stelle der unabhängigen Tätigkeit der Individuen. Wer aber kombinierte Tätigkeit sagt, sagt Organisation." "Ist nun Organisation ohne Autorität möglich?" fragt Engels weiter und stellt fest, daß in großen Industrie die Herr- und Knechtschaftsbeziehungen unvermeidlich sind: "Der mechanische Automat einer großen Fabrik ist um vieles tyrannischer, als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigen. Wenigstens was die Arbeitsstunden betrifft, kann man über die Tore dieser Fabriken schreiben: Laßt alle Autonomie fahren, die Ihr eintretet!" Soweit er die von ihm (und später auch von Lenin) praktisch überschaubaren Entwicklungen der materiellen Produktivkräfte im Auge hat, ist Engels völlig zuzustimmen. Durch und durch ahistorisch und eben durch die bereits von Marx erkannte Entwicklung der Produktivkräfte bis zur flexiblen Automatisierung überhaupt nicht gedeckt, fährt er geradezu mystisch fort: "Wenn der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft und des Erfindergenies sich die Naturkräfte unterworfen hat, so rächen diese sich an ihm, indem sie ihn, in dem Maße, wie er sie in seinen Dienst stellt, einem wahren Despotismus unterwerfen, der von aller sozialen Organisation unabhängig ist." Die logische Konsequenz dieser falschen Prämisse: Die auf ewig als tyrannisch bestimmte "Autorität in der Großindustrie abschaffen wollen, bedeutet die Industrie selber abschaffen wollen ..." Engels befindet sich hier nicht auf der Höhe der Marxschen Überlegungen zu den ökonomischen Voraussetzungen für einen möglichen Übergang zur sozialistischen Produktionsweise. Wenn die Entwicklung der Technik ein Niveau erreicht hat, daß Produzenten aus dem unmittelbaren Fertigungsprozeß heraustreten und sie dann erstmalig seit der unabhängigen Tätigkeit etwa des mittelalterlichen Handwerkers wieder zum Dirigenten der Produktion werden können, nun aber als assoziierte Produzenten, ab diesem Zeitpunkt muß aus der Wissenschaft und der Maschinerie eben nicht mehr unvermeidlich Despotie entspringen. Engels geschieht hier selbst das, was er gemeinsam mit Marx ansonsten bei den in bürgerlich-kapitalistischen Kategorien Befangenen heftig kritisiert: Eine spezifische Form von Produktion, hier die aus der Anwendung einer Industrie, die noch nicht das Niveau der flexiblen Automatisierung erreicht hat, entspringende und deshalb notwendig noch eine despotische Form hervorbringende, also nur in kapitalistisch-knechtender Arbeitsteilung beherrschbare – diese historische Form setzt er als eine natürliche, also ewige, von aller sozialer Organisation unabhängige. Ausgehend von der Annahme einer Unvermeidlichkeit despotischer Arbeitsverhältnisse bis in alle Ewigkeit ist es kein geradezu zwingender Schritt zum Vergöttern des freiwilligen Unterwerfens unter diese Despotie als höchste Form der Freiheit. Die entsprechende "sozialistische" Ideologie mit ihrer Forderung nach freudig-treuem Dienst aus Einsicht in Notwendigkeiten (die von denjenigen Menschen bestimmt wurde, die den Überblick hatten, also von den Herrschenden) hatte in Engels einen Vorläufer.

Es blieb das Geheimnis von Engels wie der "sozialistischen" Ideologie, wie sich auf der Basis ewig despotischer Produktionsverhältnisse, d. h. einer bis in alle Zeiten unvermeidlichen Klassenspaltung, jemals der Staat auflösen sollte, das notwendige Produkt und die unverzichtbare Voraussetzung des Funktionierens solcher despotischer Produktionsformen. "Wenn die Autonomisten sich damit begnügten", so schreibt Engels flott weiter, "zu sagen, daß die soziale Organisation der Zukunft die Autorität einzig und allein auf jene Grenzen beschränken wird, in denen die Produktionsbedingungen sie unvermeidlich machen, so könnte man sich verständigen." "Warum begnügen sich die Antiautoritarier nicht damit, gegen die politische Autorität, den Staat, zu wettern? Alle Sozialisten sind einer Meinung darüber, daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten."

Wie kommt es, daß Engels frühere Erkenntnisse über den Staat ignoriert? So eben die, daß es auf der Basis einer despotischen Form der Produktion, also innerhalb von Gesellschaften, die durch die Form der Produktion notwendig in Klassen gespalten sind, sinnlos ist, gegen die Institution Staat an sich zu wettern. Hier ist nicht die Rede von einem oft sehr sinnvollem Wettern, von Revolten und Revolutionen gegen jeweils solche Form staatlicher Autoritäten, die innerhalb von bestimmten Klassengesellschaften zivilisationshemmend sind. Hier geht es um die Bedingungen für das Auflösen von Herrschaft, also von Staat überhaupt. Diese Bedingungen verschiebt Engels mit der Annahme, daß die Menschen immer unter despotischen Verhältnissen arbeiten müssen kurzerhand ins Jenseits. Die Auffassung von der ewigen Knechtung innerhalb der Industrie einmal akzeptiert, ist es klar, daß gegenüber den geknechteten Menschen immer bestimmte allen gemeinsamen, also "wahre soziale Interessen" durchzusetzen sind und zwar mit einer Gewalt, die unter den angegebenen Bedingungen der Produktion eben nicht ihren politischen Charakter verlieren kann, die eine staatliche Gewalt bleiben muß. Die dann erforderlichen Administratoren bilden notwendig einer von der Mehrheit, die unter despotische Arbeit zu zwingen ist, gesonderten Klasse. Unter solchen Produktionsbedingungen kann Entfremdung, knechtende Form von Arbeitsteilung, Privat- bzw. Klasseneigentum nicht aufgehoben werden, kann nicht sinnvoll vom Verschwinden des Staates gesprochen werden.

Dieses "Vergessen" bei Engels und seinen zahlreichen Nachfolgern offenbart historische Zwänge. Der Versuch, auf der Basis der damals praktisch faßbaren Entwicklung der großen Industrie, also auf der Grundlage der tatsächlich noch unvermeidlich despotischen Produktionsformen, Sozialismus zu denken (wie später der sowjetische Versuch, ihn praktisch zu gestalten), bedeutet eben, eine Sozialismusvorstellung zu entwickeln, in der bereits erkannte unverzichtbare Grundzüge der sozialistischen Gesellschaft geistig aufgegeben oder verwischt werden. Bewegungen, die in illusionärer Vorwegnahme von Zukunft die praktische Verwirklichung solcher Grundzüge einfordern, werden dementsprechend von Menschen, die sich als Sozialisten verstehen, geistig und praktisch bekämpft. Der Realist Engels ahnt dies und nimmt geistig vorweg, was nach der nächsten sozialen Revolution geschieht, nämlich, daß der Despotismus in der Produktion nicht nur erhalten bleibt. Er wird noch erheblich ausgebaut: in die Tiefe, indem mit dem Fordismus die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital eine neue Stufe erreicht, und quantitativ, indem immer neue Schichten des Volkes als Lohnarbeiter in die Industrieproduktion hineingezogen werden. Die Gesellschaft wird so wie auch dort, wo eine soziale Revolution ausbleibt, umfassend kapitalisiert. Und der Staat bleibt nicht nur erhalten, sondern er wird im 20. Jahrhundert in Ost wie West in zuvor noch ungeahnter Weise ausgebaut. Sozialismus unter solchen Bedingungen denken und gestalten zu wollen, führt praktische in ein Dilemma und theoretisch in Antinomien.

  1. ... und gegen das schädliche Gerede von der allgemeinmenschlichen Emanzipation

Konsequenterweise gibt Engels an anderer Stelle auch auf eine sehr drastische Weise den früheren marxistischen allgemeinmenschlichen Emanzipationsanspruch auf und nimmt sogar die spätere Diktion der stalinistischen Macht vorweg. Er schreibt 1882 an Bernstein: "Wir haben an der Befreiung des westeuropäischen Proletariats mitzuarbeiten und diesem Ziel alles andre unterzuordnen. Und wären die Balkanslawen etc. noch so interessant, sobald ihr Befreiungsdrang mit dem Interesse des Proletariats kollidiert, so können sie mir gestohlen bleiben. Die Elsässer sind auch unterdrückt, und es soll mich freuen, wenn wir sie wieder los sind." Verdirbt das Emanzipationsstreben von Balkanvölkern "uns unsere ganze revolutionäre Situation ..., so müssen sie ... den Interessen des europäischen Proletariats ohne Gnade geopfert werden." Es habe ihn Mühe gekostet, die dem "Liberalismus oder Radikalismus" geschuldeten früheren "Sympathien für alle ‘unterdrückten’ Nationalitäten" zu überwinden. Gerade wenn man Engels΄ im Kontext gemachte geniale Voraussage mitbeachtet, daß aus dem Aufstand dieser Völker "ein Weltkrieg zu entbrennen droht", so zeigt diese Aufforderung, die emanzipatorische Bestrebungen außerhalb des Kerns des internationalen Proletariats zu mißachten und zu bekämpfen, das Dilemma, das die Arbeiterbewegung und den Real-"Sozialismus" fortan begleitete. 1892 sind ihm schließlich seine und Marx’ früheren "Behauptungen, dass der Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie, deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit Einschluß der Kapitalisten" nur noch Phrasen. Das seien 1844 der deutschen Philosophie noch verhaftete Embryonalformen des modernen Sozialismus gewesen, abstrakt zwar weiterhin richtig, "aber in der Praxis meist schlimmer als nutzlos." Diesen Standpunkt einer höheren, als den Interessen der Arbeiterklasse verpflichteten Menschlichkeit könnten "nur Neulinge" im Klassenkampf oder "die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wölfe im Schafspelz" vertreten.

Anstatt auf der Grundlage der seit den Frühschriften gewonnenen theoretischen Einsichten in den seine Entwicklungspotenzen noch lange nicht ausgeschöpften Kapitalismus und in die ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus den früheren Emanzipationsanspruch tiefer zu begründen, stellt Engels den allgemeinmenschlichen Emanzipationsanspruch faktisch als romantische Jugendsünde dar. Zu einem Zeitpunkt, da mit den großen Aufgaben und Erfolgen der Arbeiterbewegung auch deren Begrenztheit hinsichtlich des sozialistischen Zieles sichtbar und von Eduard Bernstein auch bald ausgesprochen wird, greift Engels nicht etwa den frühen Marxschen Gedanken auf, daß es ein Vorzug der kommunistisch-proletarischen Bewegung ist, daß sie ein Bewußtsein von der Beschränktheit ihrer geschichtlichen Bewegung, des von ihr erreichbaren Zieles habe. Angesichts von ihm zugleich ins Auge gefaßter Möglichkeit einer proletarischen Eroberung der Macht schätzt Engels das Streben nach allgemeinmenschlicher Emanzipation als für die Arbeiterbewegung selbst irrelevant bzw. schädlich ein. Zugleich hält er am Sozialismusbegriff fest, ihn meines Erachtens damit einschränkend und verfälschend, und an der Vorstellung, eine Regierungsgewalt in den Händen der Vertreter der Arbeiterklasse bringe den Sozialismus. Ersteres ist geradezu prophetischer Realismus, zweiteres theoretisch inakzeptabel. Anstatt den sich auftuenden politisch-praktischen Widerspruch zwischen proletarischen und allgemeinmenschlichen Interessen und das entsprechende theoretische Problem, das er hier benennt, in angemessener Weise theoretisch zu behandeln, geht er mit flapsigen Bemerkungen (unsere stalinistische Vergangenheit zwingt dazu, sie eher als ausgesprochen übel zu bewerten) darüber hinweg. Er weicht einer ernsthaften Behandlung des erkannten Widerspruches zwischen proletarischem Klassenkampf und allgemeinmenschlicher Emanzipation aus – so wie etwa 100 Jahre später die Honeckersche SED-Führung mit dem Terminus "real existierender Sozialismus". Anders als in der Problem- und Weitsicht der Frühschriften erscheint hier Engels das Bewußtsein von der Beschränktheit der proletarischen Mission als lästig, schädlich und im politischen sozialdemokratischen Alltag zu ignorieren bzw. zu bekämpfen. Indem er aber diese Ignoranz, hier die Überwindung der Solidarität mit unterdrückten Nationalitäten, noch als moralischen Fortschritt feiert und die Theorie, die abstrakt noch stimme, aber praktisch schädlich sei, denunziert, eröffnet er eine Tradition, die die sozialistisch-kommunistische Bewegung selbst im 20. Jahrhundert schließlich noch bis zur Unkenntlichkeit verkehren und zur Theoriefeindlichkeit führen sollte.

Engels tut dies offenkundig zugunsten eines Pragmatismus, den die Arbeiterbewegung zur Erfüllung ihres tatsächlichen historischen Berufs innerhalb der kapitalistischen Epoche tatsächlich benötigt. Der Sozialismusbegriff wird auf das Niveau gebracht, das es ermöglicht, den Kampf um zivilisatorischen Fortschritt innerhalb des Kapitalismus unter dem Namen Sozialismus zu führen. Despotische Produktionsverhältnisse für ewig zu erklären und dies ebenso wie die Unterdrückung allgemeinmenschlicher zugunsten bestimmter Klasseninteressen mit Sozialismus für vereinbar zu halten, bedeutet eine noch über ein Jahrhundert unaufhebbare Realität anzuerkennen. Das bedeutete aber zugleich auch die sozialistische Gesellschaft als Kampfziel aufzugeben bzw. den Begriff Sozialismus im weiteren Gebrauch vollkommen zu verwässern. Engels belastet die Arbeiterbewegung nicht mit ihm zugänglichen Erkenntnissen über die Begrenztheit ihrer Mission. Er fördert, indem er die Umwandlung der sozialistischen Theorie in eine sehr wirksame Utopie befördert, indem er gar gegen nationale Minderheiten antiemanzipatorische Losungen ausgibt, den praktischen widersprüchlich-proletarischen Kampf um die erreichbaren beschränkt-emanzipatorischen Ziele. Dieses Problematische in der Tradition der toten und zum Teil noch lebenden Generationen bekennender Marxisten, wie eben der Gegensatz zwischen ursprünglich allgemein-emanzipatorischen Ansatz und nur partiell-emanzipatorischer oder gar direkt antiemanzipatorischer Praxis liegt heute wie ein Alp auf den Hirnen der um menschliche Emanzipation, also um Sozialismus ringenden Menschen. Was zu Engels und Lenins Zeiten pragmatisch verständlich war und eine widersprüchliche Form der Zivilisation fördern konnte – einen solchen Sozialismus zu denken und praktisch zu versuchen, der despotische Formen der Produktion zur Grundlage hatte – ist heute nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch-politisch unerträglich geworden. Diesen Alp zu überwinden, heißt nicht, ihn einfach zu vergessen oder moralisch zu denunzieren, sondern ihn in seiner historisch-praktischen Bedingtheit zu begreifen. Es heißt, sich heute in sozialen Bewegungen zu engagieren und praktisch nach solchen Lebens- und Produktionsweisen zu streben, die im Maße ihres Erfolges diese Widersprüchlichkeit nicht reproduzieren.

27. Ist dann Sozialismus je möglich?

An dieser Stelle könnte auch mit Marx eingewandt werden, daß ja tatsächlich "alle unmittelbar gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Arbeit auf größrem Maßstab ... mehr oder minder einer Direktion, welche die Harmonie der individuellen Tätigkeiten vermittelt und die allgemeinen Funktionen vollzieht, die aus der Bewegung des produktiven Gesamtkörpers im Unterschied von der Bewegung seiner selbständigen Organe entspringen", bedarf. Wenn wir dies bejahen und zugleich Engels folgend annehmen, daß die erforderliche Direktion notwendig einen despotischen Charakter habe, weil angewandte Wissenschaft und Technik jeglichen Produktionsverhältnissen einen despotischen Charakter aufzwingen, dann wäre Sozialismus überhaupt nicht möglich.

 

 

Oder ist doch ein Sozialismus denkbar, der sich auf die Ergebnisse der im Kapitalismus entstandenen großen Produktion stützt, auf die erworbene Produktivität, eine umfassende Arbeitsteilung bis hin zur internationalen Kooperation (die nach Marx einer über der Bewegung der selbständigen Organe stehenden Direktion bedarf) und der dann nicht so wie bisher alle Gesellschaften wieder eine despotische Form der Produktion entwickeln muß, der sich also als Sozialismus wieder unmöglich macht? Wie ist ausgehend von den Errungenschaften der kapitalistischen Produktionsweise Sozialismus möglich, in der sich die unmittelbaren Produzenten selbst verwalten? Die real-"sozialistischen" Erfahrungen, der nachgewiesene Antagonismus zwischen einer über den Staat hergestellten Direktion und der Selbstverwaltung der unmittelbaren Produzenten, scheinen die Unmöglichkeit des Sozialismus zu bestätigen.

Wenden wir uns der Frage, ob und unter welchen sozialen Umständen andere als kapitalistisch-konzernmäßige bzw. staatliche Vermittlungen internationaler Arbeitsteilung möglich sind, an anderer Stelle zu. Bleiben wir bei der Arbeitsteilung im engeren Sinne, bei der Organisation des unmittelbaren Fertigungsprozesses und der damit verbundenen Stellung des Produzenten, sofern diese durch die angewandte Technik selbst bestimmt bzw. ermöglicht wird. Bezogen auf die handelnden Individuen, die Subjekte der Veränderung der Umstände und ihrer selbst, benennt Marx in den Grundrissen qualitativ erfaßbare Voraussetzungen innerhalb des Produktionsprozesses selbst, die die Despotie der großen Maschinerie und damit den Zwang zur kapitalistischen Anwendung der Produktionsmittel aufheben können. Das Entstehen solcher Voraussetzungen zumindest in den kapitalistischen Metropolen bezeichnet genau den gesuchten Punkt, von dem an sich revolutionäre Bewegungen, sobald sie sich im (Werkel-)Alltag bewähren müssen, nicht wieder Herrschaftsverhältnisse produzieren. Von da an kann Sozialismus aus einer Utopie oder Wissenschaft zur Wirklichkeit werden.

Um der Mißdeutungen vorzubeugen: Diese These hebt nichts davon auf, was über soziale Aktionen außerhalb der unmittelbaren ökonomischen Sphäre als gleichfalls unumgängliche Voraussetzungen sozialistischer Umwälzungen zu sagen ist. Es geht hier "nur" darum, welche ökonomischen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit soziale Bewegungen einen sozialistischen Charakter erhalten können. Hier den Vorwurf des Ökonomismus anzusetzen, ist unsinnig, es sei denn, mensch stellt den gesamten Geschichtsmaterialismus in Frage (was mich natürlich auch brennend interessieren würde, wären dafür überzeugende Argumente vorzubringen).

28. Der springende Punkt – der unmittelbare Produzent als Dirigent

Marx bestimmt diejenigen Voraussetzungen, unter denen der unmittelbare Produzent zugleich Dirigent sein kann, als den qualitativ bestimmbaren Punkt, von dem an Sozialismus möglich wird. Daß die "äußren Zwecke [der Arbeit - UW] den Schein bloß äußrer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden – also als Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts, daher reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit, ahnt A. Smith ebensowenig. Allerdings hat er recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als ‚Freiheit und Glück‘. Es gilt ... von ... der Arbeit, die sich noch nicht die Bedingungen, subjektive und objektive, geschaffen hat ... , damit die Arbeit travail attractiv, Selbstverwirklichung des Individuums sei. ...Die Arbeit der materiellen Produktion kann diesen Charakter nur erhalten, dadurch, daß 1. ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2. daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint." Wann ist das der Fall? Dann, wenn die unmittelbare Arbeitszeit nicht mehr Maß des wirklichen Reichtums ist: "In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder – deren powerful effectiveness – selbst wieder in keinem Verhältnis stehn zur – unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion."

Welche materiellen Bedingungen müssen dafür gegeben sein? Solche qualitativ erfaßbaren, unter denen die Arbeit "nicht mehr so als in den Produktionsprozeß eingeschlossen" erscheint, sondern sich der die notwendigen Produkte fertigende Mensch sich "vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält. ... Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint." Es geht also, anders als bei Engels mit seinem geschichtslosen mystischen Zurückschlagen einer angeblich ewig despotischen Technik, um denjenigen "bestimmten Grad der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und daher des Reichtums", von dem an diese mit der "reichsten Entwicklung der Individuen" vereinbar werden. "Sobald dieser Punkt erreicht ist, erscheint die weitere Entwicklung [auf der alten kapitalistischen Basis – UW] als Verfall und die neue Entwicklung beginnt von einer neuen Basis."

Der Übergang von fordistischen zu postfordistischen Produktionsformen erscheint – kapitalistisch betrieben und nur in diesem Rahmen kritisiert – für die Masse der Menschen als Katastrophe. Sozialistisch betrachtet und betrieben, kann dies aber der Ausgangspunkt einer reichen Entwicklung der Individuen auf der Basis gemeinschaftlich beherrschter moderner Produktivkräfte sein. Von der Stellung des produzierenden Individuums aus betrachtet ist dies der Punkt, da die Aufhebung des Kapitalismus durch den Sozialismus-Kommunismus möglich wird. "Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Entwicklung der Individualitäten und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffne Mittel entspricht."

Die Arbeit gewinnt damit einen Charakter, der nach der vor- und frühkapitalistischen Gewalt nunmehr auch die Peitsche des stummen ökonomischen Zwangs, also die Lohnarbeit als Antrieb zur Produktionstätigkeit überflüssig macht. Die Arbeit kann, wie schon gesagt, diesen Charakter nur dadurch erhalten, daß ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt, daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich also allgemeine Arbeit ist und daß notwendige Arbeit der Gesellschaft bezogen auf die materielle Produktion insgesamt auf ein Minimum reduziert ist. Diese Bedingungen wachsen mit der Zersetzung des Fordismus in den letzten Jahrzehnten sprunghaft. Das geschieht in einer Form, die menschliche Katastrophen produziert und die Zivilisation insgesamt gefährdet. Das ist der Tatsache geschuldet, daß die gesellschaftlichen Bewegungen, die den gesellschaftlichen Charakter der Produktion auf eine solche Weise setzen können, daß deren menschlichen Möglichkeiten umfassend zur Geltung kommen, die also eine sozialistisch-kommunistische Umwälzung bewirken können noch marginal sind.

29. Die Geschichte wächst Marx` Erwartungen entgegen

Beim Übergang zur Automationsarbeit finden dramatische Umbrüche in den Formen der Produktionstätigkeit selbst statt. Der Entwicklungslogik des kapitalistischen Gebrauchs moderner Technik folgend, bilden sich, so wie von Marx angenommen, genau jene o. g. Bedingungen für die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise heraus. In der Automation selbst gewinnt die Tätigkeit einen wissenschaftsförmigen Charakter. "Die Wissenschaft als allgemeine Arbeit ... macht den Arbeitsprozeß für alle verstehbar und durchsichtig und ermöglicht von daher nicht nur die Kontrolle der Arbeiter, sondern auch umgekehrt deren Kontrolle des Produktionsprozesses." Die "herrschaftsbegründende Trennung der Kopf- von der Handarbeit" verliert damit ihre Basis. Es sind jedoch die speziellen Verhältnisse der Produktion, in denen sich die Automation vollzieht, die deren zivilisatorischen Potenzen in Katastrophen verkehren. Das verdeckt für viele Menschen die Tatsache, daß sich nunmehr emanzipatorischen Bewegungen, die bisher die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise noch nicht überschreiten konnten, andere Perspektiven öffnen, als den Revolutionären der Jahre 1917ff, die, sich den Zwängen des Fordismus unterwerfend, wieder Herrschaftsverhältnisse reproduzierten. Mit den heute möglichen Formen der automatisierten Produktion gewinnen allgemeinmenschliche Emanzipationsbestrebungen eine ökonomische Grundlage: "Die Theorieförmigkeit der Automationsarbeit, die Planung des Ungeplanten und die dafür erforderliche Intensivierung der Kommunikation und Kooperation bedarf der Herausbildung einer neuen Stufe in der Vergesellschaftung der Arbeitenden, bedarf der Entwicklung einer neuen Arbeitskultur, in der die Entscheidungen zunehmend kollektiv, in der Form der Selbstverwaltung der Produktions- und Verwaltungsprozesse, getroffen werden. Die Realisierung dieser möglichen Perspektiven ... bedarf der demokratischen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, bis hinein in die Betriebe in der Weise, daß alle Menschen an den wichtigen Entscheidungen teilhaben, ihre Selbstverantwortung für das Ganze, Natur und Gesellschaft, entwickeln und betätigen können."

Hier ist in Bezug auf unser Thema, auf die Bestimmung des sozialökonomischen Charakters der Oktoberrevolution und der Sowjetgesellschaften, festzuhalten, daß die von Marx theoretisch bestimmten Bedingungen, unter denen eine sozialistische Produktion möglich wird, weder 1917ff noch 1945 gegeben waren. Es war und ist unmöglich, daß Menschen, die in ihrem gesamten Arbeitsleben einer fordistischen Produktionsweise unterworfen sind, die Gesellschaft zu einer sozialistischen gestalten und sich selbst zu freien selbstbestimmten Individuen entwickeln können. Was Marx etwa ein halbes Jahrhundert vor dem russischen Oktober über die Formen des konkreten Arbeitsprozesses in der kapitalistischen großen Industrie schrieb, die Entwicklung einer stringenten Herrschaft über den unmittelbaren Produzenten, wurde ebenso wie im Westen auch in der Sowjetunion im weltbeherrschenden Sinne historisch wahr. Als ein die darin entwickelte Theorie über die kapitalistische Produktionsweise vertiefendes Kapitel hat die Geschichte dem Marxschen Kapital sozusagen den Teil Taylorismus-Fordismus hinzugefügt. 1934 schreibt Gramsci: "Taylor drückt mit brutalem Zynismus die Ziele der amerikanischen Gesellschaft aus: im Arbeiter so weit wie möglich eine Maschinen- und Automateneinstellung zu entwickeln, den alten psychisch-physischen Nexus von qualifizierter Berufsarbeit, die noch eine gewisse aktive Partizipation der Intelligenz, der Phantasie, der Arbeiterinitiative erforderte, aufzusprengen und die produktiven Operationen auf ihren rein physischen Maschinenaspekt zu reduzieren." Der Staat entspreche dem kapitalistischen Interesse an einer "rationalisierten" Lebensweise der Arbeiter, wobei die fordistische Arbeit, neben Zwang und Geld, auch auf "Selbstbeherrschung und Überzeugung" der Arbeiter sei.

Die Unmöglichkeit eines fordistischen Sozialismus, eine real-"sozialistische" Jahrhunderterfahrung, hat Marx‘ Gedanken in den Grundrissen über die Voraussetzungen zur Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise bestätigt. Nicht bewahrheitet haben sich seine Bemerkungen über die um 1880 angeblich bereits fix und fertigen ökonomischen Voraussetzungen des Sozialismus sowie seine Vorstellungen vom sozialistischen Charakter der proletarischen Revolution. Für die sehr frühen Einsichten in die Begrenztheit der proletarischen Bewegung allerdings hat die Geschichte gleichfalls hinreichend überzeugende Belege produziert.

Halten wir fest: Zwischen folgenden für die Möglichkeit der Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wesentlichen ökonomischen Prozessen und der geradezu revolutionären Veränderung der Individuen sieht Marx notwendige innere Zusammenhänge:

Der sich im Postfordismus ankündigende revolutionäre Umbruch in der Stellung des Individuums im Produktionsprozeß selbst kündigt jenen historischen Punkt an, da Sozialismus zu einer realisierbaren Forderung wird. Damit wird seine immer schon falsche Verwendung zur Bezeichnung der real-"sozialistischen" besonderen Form der Kapitalisierung unerträglich. Von diesem historischen Punkt an müssen außerökonomische emanzipatorische Bewegungen nicht mehr so wie die erfolgreichen politischen Revolutionäre der Vergangenheit in die ökonomisch bestimmten Zwänge zur Rekonstruktion alter bzw. neuer Herrschaftsverhältnisse geraten. Von diesem Zeitpunkt, da der Werkelalltag nicht mehr zu solchen knechtenden Formen von Arbeitsteilung zwingen muß, die durch keine außerökonomische Gestaltung dauerhaft zu kompensieren ist, von diesem Wendepunkt an kann "das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen ... Selbstveränderung" einen sozialistischen Charakter annehmen.

Die frühe Marxsche Erkenntnis vom untrennbaren Zusammenhang zwischen (knechtender) Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum gewinnt in seinen Kritiken der Politischen Ökonomie durch die exakte Bestimmung der ökonomischen Bedingungen für die Aufhebung dieser drei Elemente eine wissenschaftliche Begründung. Abgesehen vom frühen Traum des sowohl jagenden, fischenden als auch kritische Theorie treibenden Menschen und seiner begeisterten Schilderung des Adels an Menschlichkeit und geistigem Anspruchs der Arbeiter von Paris, hütete sich Marx im Maße seines theoretischen Fortschrittes später davor, unmittelbar anschauliche Bilder von der Aufhebung von knechtender Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum zu malen. Genau danach, nach Visionen und Bildern vom proletarischen Himmelreich, stand den proletarischen Revolutionären jedoch der Sinn, wie viele Arbeiterlieder zeigen.

Was zu Marx Zeiten bis weit in das 20. Jahrhundert, außerhalb von Theorie und Utopie noch nicht praktisch, also nicht massenweise erfaßbar war, stellt die Wirklichkeit heute im Auflösungsprozeß der fordistischen Formen von Produktion und Lebensweisen zur Verfügung – solche Elemente, die unverzichtbare Voraussetzungen der Aufhebung einer auf Wert begründeten Gesellschaft darstellen. Eine sich als sozialistisch verstehende Bewegung, die sich tatsächlich aber in den Grenzen der wertbegründeten Gesellschaft bewegte, konnte in der Vergangenheit ihr postuliertes Ziel zwar nicht erreichen, aber einen begrenzten zivilisatorischen Fortschritt erkämpfen. Trotz des Fehlschlagen dieser Bewegung, gemessen an den ursprünglichen Ansprüchen, sind die unter falscher Flagge erreichten Leistungen als historische Leistung der Vergangenheit hoch zu schätzen. Heute jedoch unter dem Namen Sozialismus nur innerhalb dieser Grenzen denken und agieren zu wollen, heißt, die tatsächlichen Chancen für einen sozialistischen Umbruch zu ignorieren, nicht nur an einer Utopie festzuhalten, sondern ihr einen rückwärtsgewandten emanzipationsfeindlichen Charakter zu geben.

Wenn solche Strukturen wie lean-production und team-work, der dramatische Rückgang der in der fordistischen Fließproduktion Beschäftigten, die explosionsartige Steigerung der Produktivität sowie die Herausbildung zahlreicher, oft auch mittels high-tech arbeitendender Klein- und Kleinstunternehmen als Debakel erlebt werden, dann kann dem nicht durch rückwärtsgewandte Losungen begegnet werden, wie durch die Berufung auf die alten Regulierungen durch den fordistischen Staat. Nicht unter dieser Fahne kann der katastrophalen kapitalistisch-neoliberalen Formierung von Produktion und Gesellschaft entgegengetreten werden. Die kapitalistische Form der Globalisierung muß solange als alternativloses Unglück, als Schicksal erscheinen, solange mensch Auswege nur in den dem Fordismus entsprechenden Strukturen der "goldenen" Jahre und des früheren Real-"Sozialismus" bzw. in einer seiner angeblich verpaßten bzw. denkbaren Varianten sucht.

30. Hoffnung auf den Sozialstaat – eine vermeidbare Falle

Die Interpretation des sich auflösenden Fordismus nur als ein Unglück und die damit verbundenen Versuche, den sozialen Konsequenzen durch Bewahren des nicht mehr erhaltbaren und nicht mehr bewahrenswerten antiemanzipatorischen Sozialstaates östlicher wie westlicher Prägung zu begegnen, sind geistige und praktische Fallen. Denen ist nur begrenzt durch Aufklärung zu begegnen und ebensowenig durch Orientierung auf politische Aktivitäten im Rahmen des parlamentsorientierten Parteiengerangels. Diese Politikformen haben mit denen des früheren des Real-"Sozialismus" gemeinsam, daß sie Praxisformen darstellen, die hinreichend willige Zöglinge voraussetzen und schaffen. Die Selbstveränderungsprodukte dieser Praxen konnte man etwa im DDR-Volk "bewundern", das sich bis auf eine Minderheit 1990 lediglich eine neue, angeblich gerechtere Herrschaft wünschte. Diese Haltung ist genauso anachronistisch wie die des sich selbst immer wieder betrügenden westlichen Wahlvolks und die der nutznießenden Akteure dieses Mechanismus, der etablierten Parlamentarier und die Staatsbürokraten. Beim Mitmischen in diesem Geschäft kann sich keine politische Partei dem Zwang zu Betrug und Selbstbetrug entziehen, welchen emanzipatorischen Gründungskonsens sie einst auch hatte. Das ist seit über einem Jahrhundert an der Sozialdemokratie, über ein Jahrzehnt bei den Grünen und in noch größerer Geschwindigkeit bei der PDS zu studieren. Die Mechanismen auch und gerade des demokratischsten bürgerlichen Politikgeschäftes (die Mechanismen des früheren Ostens sowieso) transformieren die engagiertesten emanzipatorischen Bewegungen in einer Weise, die nicht aus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft heraus, sondern in sie hinein führt. Die sich in diesen Politikformen bewegenden Menschen bringen sich im Wunsch, die parlamentarischen Möglichkeiten wenigstens für Teilerfolge auszunutzen und darauf aufbauend den emanzipatorischen Ziele näher zu kommen, dazu, selbst wieder Herrschaftsmechanismen zu entwickeln. Johannes Agnoli hierzu 1968: "Die fundamentaloppositionellen Parteien, die sich auf das parlamentarische Spiel einlassen und den außerparlamentarischen Kampf nicht mehr als das wesentlich Mittel des Herrschaftskonflikts praktizieren, drohen ihre emanzipatorische Qualität zu verlieren und sich in bürokratische Integrationsapparate zu verwandeln. Der politische und (warum denn nicht) auch moralische Niedergang der Sozialdemokratie (ein historischer Verrat an der Befreiung des Menschen) ist ein Warnzeichen für die sozialistischen und kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern. Jede Parlamentsreform, die in involutiv gerichteten Staaten verwirklicht wird, dient nicht dazu, die Möglichkeit der Beteiligung der Massen an den Entscheidungsprozessen auszuweiten, sondern dazu, sie durch Steigerung der Herrrschaftsfunktionalität des Parlaments einzudämmen. Wo eine politisch artikulierte freie Öffentlichkeit besteht, findet sie im Parlament kein Werkzeug, praktisch zu werden.

Ein Ausbrechen aus diesen Fallen ist viel eher möglich durch kritisch-wache Teilhabe an Projekten, in denen begründet auf heute zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln herrschaftsfrei assoziierte Individuen sich unmittelbar um eine selbstbestimmte neue Lebens- und Arbeitsweise bemühen.

Ein solches Ringen engagierter Menschen um die materiellen Bedingungen ihrer Existenz, das von ihren jeweils individuellen und gemeinschaftlichen Interesse ausgeht, das nicht geprägt von knechtender Arbeitsteilung, nicht vorangetrieben von der Verwertung von Wert, eine solches Engagement kann langfristig nur Erfolg haben, wenn es sich mit dem anderer Assoziationen vernetzt und so auch entferntere gesellschaftliche Bedingungen zum Gegenstand des sozialen Einsatzes macht. Durch ein solches individuelles und kollektiven Ringen, das keine Herrschaftsstrukturen rekonstruiert, kann die Veränderung der Verhältnisse und die Selbstveränderung einen dauerhaft emanzipatorischen, also sozialistischen Charakter annehmen. Das Überwindung des falschen Selbstverständnisses des Ostens als sozialistisch und das mit der Auflösung der fordistischen Form der Vergesellschaftung verbundene Wahrwerden der von Marx in den Grundrissen beschriebenen Verhältnisse, unter denen die bürgerliche Gesellschaft aufhebbar wird, lassen die heute gegebene Möglichkeiten einer sozialistische Perspektive sichtbar werden.

Was sind die Konsequenzen solcher Überlegungen für Sozialisten? Die Antwort darauf kann nur in den Bewegungen selbst und in mit ihnen verbundenen Disputen gefunden werden. Dazu ist es erforderlich, sich theoretisch und praktisch von den alten Arbeiterbewegungs- und real-"sozialistischen" Strukturen sowie Ideologien ab- und neuen Assoziationen und Bewegungen zuzuwenden. Es geht um allgemeinmenschliche, sich miteinander vernetzende Sicherung ihrer eigenen Existenz und zwar in einer solchen kooperativen Weise, daß eine den heutigen materiellen Emanzipationsbewegungen. Unabhängig von ihrem Selbstverständnis ringen diese um eine langfristige Möglichkeiten angemessene herrschaftsfreie Entwicklung der Individuen und zugleich die Bewahrung menschlicher Zivilisation möglich wird. Werden solche Bewegungen geschichtsmächtig, bedeutet das die praktische Aufhebung der Kapitalverhältnisse und damit die tatsächliche Konstituierung sozialistischer Gesellschaften. Der Kommunismus kann und muß nicht in solche Bewegungen hineingetragen werden. Er kann sich vielmehr aus solchen Assoziationen herausentwickeln. Die materiellen Voraussetzungen dafür sind vorhanden.

Berlin, 18.06.1998 Ulrich Weiß

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