Bis zum jüngsten Tag

Die größte deutsche Partei ist die der Nichtwähler. Dies bereitet unserem unterhaltsamsten Politiker große Sorgen. Jedenfalls erzählte er das jüngst im Hohen Hause. Die verbreitete Meinung, es sei eh egal, wer durch Kreuzelmachen an die Staatshebel gehievt werde, sieht er als bedenklich an. Damit würde dem zugestimmt, was die Regierenden nach den Wahlen immer offener sagen: um den deutschen Standort fit zu halten, müßten sie leider die Hoffnungen ihrer Wähler enttäuschen und weitere Sozialleistungen abräumen. Nun, so frage ich mich, was ist so besorgniserregend, wenn die Leute schon vor dem Buhlen um die Wahlstrichel ihren eigenen Verstand bemühen, wenn sie erkennen, daß von Politikern gar nichts anderes mehr zu erwarten ist, als das, was sie tatsächlich tun? Solche aus Erfahrungen gewonnene Intelligenz und die damit schwindende Autoritätsgläubigkeit erschwert es allen Staatsschauspielern, die Leute durch Wahlen zu Komplizen ihres Treibens zu machen. Vielleicht ist auf diesem Wege noch eine ganz andere Erkenntnis möglich, etwa die demokratisch-sozialistische, daß uns überhaupt kein höheres Wesen rettet, auch kein frei gewählter Tribun, möge er noch so spaßig sein.

Warum ist also der kleine Mann mit dem großen Witz so sauer, wenn die Leute einen Schritt in eine wirklich neue Richtung wagen? "Wenn die Bürger nicht mehr wählen, dann sind auch wir bald erledigt!" Wenn man vor allem Wahlen im Kopf hat, dann ist das eine einleuchtende Antwort. Nun fühle ich mich dem Verein meines sorgenvollen Freundes noch verbunden. "Don´t worry", will ich ihn mittels Logik ermutigend. "Es ist für euch doch das Beste, wenn immer weniger Leute wählen. Nimmt die Beteiligung weiterhin schneller ab, als solche treuen Seelen wie ich diese schöne Erde verlassen, ist doch alles o.k. Aus Spaß am Ärger der anderen oder aus tiefer Solidarität mit den eigenen Diätenabfassern traben wir Getreuen doch weiter brav ins Lokal (wenn auch nicht mehr unbedingt vor 10.00 Uhr). Ergo, je mehr Menschen (außer uns natürlich) erkennen, daß Wahlen kein Gegenmittel mehr gegen die heutigen Alltagskatastrophen sind und nicht mehr hingehen, um so näher kommt ihr der Regierungsmacht. Liegt die Beteiligung in vier Jahren auf US-Niveau, bist du Kanzler."

"Um Gottes willen!", ruft der Kleine. "Ach was", meine ich, "gönn dir den Spaß. Ran an die Töpfe, auch wenn euch dann die Unternehmerfritzen zurechtstutzten." "Was heißt hier zurechtstutzen? Vom Primat der Politik hast du wohl noch nichts gehört?" "Doch, doch, in früheren Zeiten." "Wir jedenfalls würden das Geld nur so umverteilen. Bei uns steckt drin, was draufsteht. Oder etwa nicht?" "Ich bin ja kein Nörgler und Zweifler, doch was steckt denn drin?" "Wir an der Macht, das bedeutet auf pluralistisch-demokratische Weise in der Tendenz eine Politik anzustreben, die die Möglichkeit in sich birgt, daß sich unsere Menschen in einem unentwegten Prozeß der Modernisierung einem neuen gesellschaftlichen Zustand von Kontinuität und Veränderung nähern. ..." "Wem nähern?" "Na dem Dingsbums da, dieser Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." "Wirklich schön gesagt, so wie der olle Kalle Max als er noch ganz jung war. Bloß der hat sich dann noch sein ganzes Leben lang den Arsch wundgesessen, um herauszukriegen, wie es eigentlich zu deiner Assumtion, oder wie das heißt, kommen kann. Aber das kennst du ja alles." "Quatsch, diese blauen Schwarten haben mich schon im Grundlagenstudium angeödet, der eine Satz aber von der freien Entwicklung, der hat doch was. Unsere zukünftigen Finanzminister müßten das natürlich noch ein bißchen durchdenken. Wie die morgen rechnen, werden wir dann übermorgen leben. Wir könnten ja bei jeder Spekulation der Superreichen etwas abknapsen, sagen wir mal ein halbes Prozentchen. Das reichen wir dann nach unten weiter! Man muß bloß wollen. Und Arbeitsplätze gibt´s dann noch und nöcher. Es muß ja auch nicht gerade in die produktivsten Bereiche investiert und weitere Arbeitszeit überflüssig gemacht werden. Nein, umgekehrt, Hauptsache, die Leute sind beschäftigt."

Das ist überzeugend und irgendwie auch schon bekannt. Bloß warum will mein Freund den Laden dann nicht übernehmen? Er denkt wohl an ein Restrisiko. Was ist zum Beispiel – von wegen Primat der Politik und Prozentchen –, wenn ein rötlicher Geschäftsführer der Deutschland-AG dann auch nur noch witzig reden könnte, ansonsten aber nach der Pfeife der wirklichen Chefs zu tanzen hätte? Belehrt durch die Praxis kämen auch der dann letzten staattragenden Partei die roten Gläubigen abhanden. Dann wäre nicht nur unser Verein hin, sondern jegliche Regierung müßte sich ein neues Volk suchen. Wir wären vielleicht sogar das ganze heutige Staatstheater los – eine für unser Völkchen schreckliche Vorstellung. Denn welchem Kolonialherren samt blühender Phantasie sollten wir uns dann an den Hals werfen?

Nein, das ist zu unsicher. Der große Plauderer hat Recht. Solange es noch irgendwie geht, vor allem, wenn man ganz gut im jetzigen Jammertal angekommen ist, läßt man sich nicht auf ein solches Risiko ein. Also Leute aller Farben, seiet fest im Glauben, nehmet eure Kreuze, gehet hin, faltet Zettel und Hände – bis zum jüngsten Tag. Wenn´s dann so weit ist, kann man sich immer noch rausreden: "Ach, wie hat man uns betrogen."

(Text vom Blättchen nicht angenommen)

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